13.12.2022

Dr. Rainer Hess, ehemaliger Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses

Warum ist Selbstverwaltung heute noch wichtig?

Das Foto zeigt Dr. Rainer Hess, der von 1988 bis 2003 Hauptgeschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung war.
Dr. Rainer Hess war von 1988 bis 2003 Hauptgeschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Von 2004 bis 2012 war der Jurist unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses. Foto: Stiftung Gesundheitswissen / Selina Pfrüner Fotografie

Diese Frage kann nicht isoliert für die vertragsärztliche Selbstverwaltung der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) beantwortet werden. Sie stellt sich, wenn überhaupt, für das System der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen.

Dieses System der gemeinsamen Selbstverwaltung ist Ausdruck des die Gesetzgebung zur Sozialversicherung prägenden Grundsatzes der Subsidiarität staatlicher Gesetzgebung gegenüber normativen Verträgen und Richtlinien der Selbstverwaltung. Gesetzlicher Ausdruck dieser Subsidiarität staatlicher Gesetzgebung ist der schon in der Reichsversicherungsordnung (RVO) wortgleich enthaltene § 72 Abs. 2 SGB V: „Die vertragsärztliche Versorgung ist im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) durch schriftliche Verträge der Kassenärztlichen Vereinigungen mit den Verbänden der Krankenkassen so zu regeln, dass eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse gewährleistet ist und die ärztlichen Leistungen angemessen vergütet werden.“ Für diese gleichberechtigte Vertragspartnerschaft („gleichlange Spieße“) zwischen Ärzten und Krankenkassen haben die Ärzte nach Errichtung der gesetzlichen Krankenversicherung durch die Bismarcksche Sozialgesetzgebung hart kämpfen müssen, um sich von der Abhängigkeit einseitiger Einkaufsentscheidungen der Krankenkassen zu befreien.

Gestaltungsspielraum eingeschränkt

Das sozialpolitische Umfeld dieser gemeinsamen Selbstverwaltung mit dem G-BA als ihrem obersten Gremium hat sich in den nahezu 80 Jahren ihres Bestehens massiv verändert. Daher kann sich die Frage nach ihrem Fortbestand durchaus stellen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen haben ihr Monopol als alleiniger Vertragspartner der Krankenkassen für die vertragsärztliche Versorgung durch die Einführung des Wettbewerbes der Krankenkassen um Versicherte und den ihnen mit Wahltarifangeboten ermöglichten Vertragswettbewerb in der hausarztzentrierten und integrierten (besonderen) Versorgung verloren.

Hess verfasste zahlreiche Publikationen zum Sozial- und Gesundheitsrecht, Arzneimittelrecht und zum Vergütungsrecht der Heilberufe. Foto: IMAGO / Camera 4

Durch die Zulassung von Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) in der Trägerschaft von Krankenhäusern ist eine neue Struktur in der Mitgliedschaft der Kassenärztlichen Vereinigungen entstanden, die nicht auf die Freiberuflichkeit, sondern auf die Anstellung von Ärzten setzt, die als Mitglieder der KV darauf ausgerichtete Interessen vertreten.

Der ärztliche Nachwuchs ist immer häufiger an einer gesicherten Anstellung interessiert als an einer Niederlassung in eigener Praxis. Auch niedergelassene Vertragsärzte bringen ihre Kassenzulassung häufig in ein MVZ ein, in dem sie als angestellte Ärzte in Teilzeit weiter arbeiten können. Die vertragsärztliche Gesamtvergütung sollte zwar durch die Umstellung auf eine Morbiditätsorientierung und eine Euro-Gebührenordnung entbudgetiert werden, ist aber auch wegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts weiterhin gedeckelt und kann Besonderheiten in der Morbidität der Patienten der einzelnen Praxis in der Honorarverteilung nicht ausreichend berücksichtigen. Durch gesetzgeberische Eingriffe in die Selbstverwaltungsstrukturen und die Gängelei der Selbstverwaltung durch Anweisungen des Gesetzgebers mit zu enger Fristsetzung ist die Rechtsaufsicht des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) über die Selbstverwaltungsorganisationen so intensiviert worden, dass der verbleibende Gestaltungsspielraum immer stärker eingeschränkt wird. Es ist daher verständlich, dass Vertragsärzte einen Ausweg über die Mitwirkung an Wahltarifen der Krankenkassen suchen und sich damit partiell in die Abhängigkeit von Direktverträgen einer Krankenkasse begeben.

 

Ärzteschaft droht Einfluss-Verlust

Es macht jedoch einen erheblichen Unterschied, ob zur besseren Nutzung von modernen Praxisstrukturen, die in der vertragsärztlichen Versorgung so nicht angeboten oder nicht angemessen vergütet werden, Verträge mit daran interessierten Krankenkassen angestrebt und abgeschlossen werden oder ob die Selbstverwaltung der KVen als zentraler Vertragspartner der Regelversorgung grundsätzlich in Frage gestellt wird. Es kann nahezu mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der Staat in die dann entstehende Lücke der Gewährleistung des Sachleistungsanspruchs des Versicherten auf eine flächendeckende ambulante Versorgung nicht selbst eintreten, sondern die Krankenkassen beziehungsweise deren Verbände damit beauftragen würde. Dann würden die Krankenkassen einseitig die Vertrags- und Vergütungsbedingungen für die vertragsärztliche Versorgung vorgeben können.

Der G-BA ist das höchste Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen Deutschlands. Foto: Svea Pietschmann / G-BA

Auch die Strukturen des G-BA und der anderen gemeinsam besetzten Ausschüsse, soweit sie dann überhaupt noch benötigt werden, wären ohne Vertreter der vertragsärztlichen Selbstverwaltung neu zu strukturieren. Die Ärzteschaft insgesamt würde dadurch erheblich an Einfluss auf die Ausgestaltung der vertragsärztlichen Regelversorgung verlieren, da die Ärztekammern und einzelne Verbände auch rechtlich deren Gewährleistung nicht übernehmen können. Das Festhalten der Krankenhäuser am dualen Finanzierungssystem trotz der für sie völlig unzureichenden Finanzierung der Investitionskosten durch die Bundesländer ist ein Beispiel, das zeigt, wie sehr wegen des Übergangs der Planungshoheit eine Übernahme der Finanzierung auch der Investitionskosten durch die Krankenkassen gefürchtet wird.

 

Kassen schaffen Sicherstellung nicht

Es stellt sich natürlich auch die Frage, ob die Krankenkassen selbst bei einem Wegfall gemeinsamer Selbstverwaltungsstrukturen in der Lage wären, den dann ausschließlich von ihnen jeweils für ihre Versicherten zu erfüllenden Sicherstellungsauftrag der Regelversorgung wahrzunehmen. Diese Frage muss bei den gegebenen Strukturen einer Vielzahl regionaler und überregionaler Krankenkassen und Ersatzkassen eindeutig verneint werden. Insbesondere die gesetzlich den Versicherten zustehende Freizügigkeit in der Inanspruchnahme der ambulanten ärztlichen Versorgung im Bundesgebiet, lässt sich ohne das unter den KVen gehandhabte Clearingverfahren nicht oder nur mit einem immensen bürokratischen Aufwand sicherstellen. Die Sicherstellung des Notdienstes in der vertragsärztlichen Versorgung und dessen Vergütung ist ohne die Pflichtmitgliedschaft der Vertragsärzte in den KVen nicht sachgerecht durchführbar. Die Weigerung der Krankenkassenverbände sich ernsthaft in die vertragliche Ausgestaltung der Honorarverteilung der vertragsärztlichen Gesamtvergütung einzubringen, mit der Folge der Rückübertragung des Honorarverteilungsmaßstabs in die Verantwortung der vertragsärztlichen Selbstverwaltung zeigt, dass die Krankenkassen selbst eine verantwortliche Beteiligung an der Honorierung des einzelnen Vertragsarztes in der Regelversorgung auch nicht anstreben.

 

Das Foto zeigt den Eingangsbereich der Geschäftsstelle der KV Bremen.
Die KV Bremen ist eine von 17 Kassenärztlichen Vereinigungen in Deutschland. Foto: IMAGO / Eckhard Stengel

Auf die Sicherstellung der Regelversorgung durch die Kassenärztlichen Vereinigungen kann daher im Sachleistungssystem der Regelversorgung nicht verzichtet werden. Dies erkennend oder auch anerkennend müsste der Gesetzgeber der Selbstverwaltung wieder mehr Gestaltungsspielräume in der für die medizinische Versorgung der meisten Versicherten nach wie vor maßgebenden Regelversorgung geben, statt zu versuchen, die ohne Zweifel bestehenden Strukturprobleme der ambulanten Versorgung über verpflichtende Wahltarife der Krankenkassen lösen zu wollen.

 

 

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