Perspektiven
05.09.2022
Prof. Dr. Ulrich Wenner, ehemaliger Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht
Lassen sich investorbetriebene MVZ verbieten?
Immer mehr inländische und ausländische Finanzinvestoren, die nicht mit eigenen Versorgungseinrichtungen an der Gesundheitsversorgung in Deutschland beteiligt sind, übernehmen die Betreibergesellschaften von Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) oder gründen selbst solche, indem sie ein zugelassenes Krankenhaus kaufen, das seinerseits beliebig viele MVZ im gesamten Bundesgebiet gründen darf.
Diese Entwicklung löst aus mehreren Gründen Besorgnis aus. Die finanziellen Angebote, die inverstorbetriebene MVZ Ärztinnen und Ärzten machen können, die ihre vertragsärztliche Tätigkeit aufgeben wollen, sind so attraktiv, dass in bestimmten Fachrichtungen (Radiologie, Augenheilkunde) immer weniger frei werdende Vertragsarztsitze „frei“ nachbesetzt werden können. Damit werden auch an sich niederlassungswillige Ärztinnen und Ärzte in die Anstellung gedrängt. Zudem wird die strikte Renditeorientierung von solchen MVZ als Gefahr gesehen: Nicht die medizinisch sinnvollen, sondern die wirtschaftlich interessanten Leistungen werden dort mutmaßlich präferiert. Schließlich gehen von dem typischen „Buy-and-Build“-Geschäftsmodell der Private-Equity-Fonds Risiken für die Versorgung aus: Wenn sich für einen geplanten Verkauf einer MVZ-Kette kurzfristig kein Interessent findet, droht der Wegfall etwa der radiologischen Versorgung in einer Region, wenn die von diesem Investor getragenen MVZ den Markt dominiert haben.
Regulatorische Eingriffe nur für die Zukunft
Ob es verfassungsrechtlich zulässig ist, aus diesen Gründen den Erwerb und den Betrieb von MVZ durch Finanzinvestoren zu verbieten, ist noch nicht geklärt. Einigkeit besteht zunächst wohl zu zwei Fragen: Nur der Gesetzgeber selbst wäre dazu befugt; alle Vorstellungen, die Zulassungsgremien oder die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen könnten in diese Richtung wirken, haben keine rechtliche Grundlage. Weiterhin könnte ein Ausschluss von Finanzinvestoren von der Trägerschaft von MVZ nur für die Zukunft realisiert werden. Für einen Eingriff in bestehende Strukturen, der auch zu einer Entwertung von bereits getätigten Investitionen führen würde, bestehen verfassungsrechtlich besonders hohe Hürden. Der Erwerb eines zugelassenen Krankenhauses durch einen Finanzinvestor und die über die Trägerschaft dieses Hauses vorgenommene Gründung von MVZ stand immer mit den gesetzlichen Vorgaben in Einklang. Über die Risiken dieses Modells ist im Zuge der Beratungen des Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) 2019 breit diskutiert worden, und die Bundesregierung hat deutlich gemacht, dass sie zumindest im vertragsärztlichen Bereich keinen Anlass für steuernde Eingriffe sieht. Diese Beurteilung kann sich ändern; sie schließt aber eine Beseitigung von geschaffenen MVZ-Strukturen mit der Begründung aus, das Modell sei schon immer „anrüchig“ gewesen, etwa vergleichbar den „Cum-Ex“-Geschäftsmodellen der Finanzbranche in den 2010er-Jahren.
Anforderungen an Eingriffe in das Grundrecht der Berufsfreiheit
Verfassungsrechtlicher Maßstab für einen künftigen Ausschluss von Finanzinvestoren an der – auch mittelbaren – Trägerschaft von MVZ ist das Grundrecht der Berufsfreiheit in Art. 12 Grundgesetz. Das Bundesverfassungsgericht gestattet dem Gesetzgeber regulatorische Eingriffe sowohl in die Freiheit der Wahl eines Berufs wie in dessen Ausübung. Je intensiver die Freiheit, eine bestimmte Tätigkeit ausüben zu dürfen, eingeschränkt wird, desto dringender und naheliegender müssen die Gefahren für die Gemeinwohlgüter sein, die durch das Verbot geschützt werden sollen. Der grundrechtliche Schutz der Berufsfreiheit kommt dabei nicht nur „natürlichen Personen“ wie Ärztinnen und Ärzten zu, sondern auch „juristischen Personen“ wie GmbH und AG.
Welche Gemeinwohlziele im Rahmen der ambulanten Versorgung vorrangig sind, entscheidet der Gesetzgeber; dieser war nicht verpflichtet, die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung 2004 für MVZ in der Hand von GmbH und mittelbar von Krankenhäusern zu öffnen. Wenn er diese Entscheidung aber rückgängig machen und damit ein bisher offenes Geschäftsfeld schließen will, benötigt er Gründe von einigem Gewicht, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gerne formuliert. Die Ausrichtung der ärztlichen Behandlung vorrangig am wirtschaftlichen Interesse des MVZ-Trägers wäre sicher ein solcher wichtiger Grund. Das Problem ist nur: Alle Versuche, einen solchen Zusammenhang so zu belegen, dass die Richterinnen und Richter des BVerfG davon überzeugt sind, haben nach meiner Einschätzung bisher keinen Erfolg gehabt. Das im November 2020 dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) erstattete Gutachten von Andreas Ladurner (Jurist)/Ute Walter (Juristin) und Beate Jochimsen (Volkswirtin) hat vorbildlich ehrlich den Forschungsstand dahin zusammengefasst, dass man es schlicht nicht weiß. Das mag Anlass zu weiteren Untersuchungen geben, lässt aber die Aussichten schwinden, dass das BVerfG auf der jetzt erreichten Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse einen Ausschluss von investorbetriebenen MVZ von der Zulassung billigen würde.
Folgen unfreiwilliger Marktaustritte von MVZ für die Versorgung
Auch der Aspekt der „Buy-and-Build“-Strategie von Finanzinvestoren auf die vertragsärztliche Versorgung rechtfertigt derzeit keine andere Einschätzung. Es müssten Konstellationen benannt werden können, in denen versorgungsrelevante MVZ-Ketten so kurzfristig vom Markt gegangen sind, dass es zu Engpässen gekommen ist. Davon ist mir zumindest nichts bekannt; der erfolgreiche Verkauf eines übernommenen „Unternehmens“ und nicht dessen Scheitern ist das Geschäftsmodell von Private-Equity-Fonds. Es müsste belegt werden können, dass der Marktaustritt eines oder mehrerer investorbetriebener MVZ mehr als der theoretisch nie auszuschließende „Worst Case“ dieses Geschäftsmodells ist. Zudem können die in einem insolventen MVZ tätigen angestellten Ärztinnen und Ärzte auf der Basis von vertraglichen Vereinbarungen mit dem MVZ-Betreiber nach der aktuellen höchstrichterlichen Rechtsprechung verlangen, dass dieser die Umwandlung der Anstellungsgenehmigungen in besetzbare Vertragsarztsitze beantragt, so dass die betroffenen Ärztinnen und Ärzte im angestammten Planungsbereich auch nach dem Ausscheiden des MVZ weiter tätig sein können.
Weiterhin argumentieren die publizistischen Vertreter solcher Investoren eher damit, dass zumindest in ländlichen Regionen etwa augenärztliche Sitze überhaupt nur nachbesetzbar waren, weil ein MVZ den interessierten Ärztinnen und Ärzten die Risiken der Praxisfortführung abgenommen hatte. Das mag deutlich interessengeleitet sein, müsste in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren aber konkret widerlegt werden.
Gleichbehandlung von Krankenhäusern und MVZ
Die größte juristische Hürde auf dem Weg zu einem Verbot von investorbetriebenen MVZ ist schließlich der Umstand, dass Finanzinvestoren zugelassene Krankenhäuser erwerben und betreiben dürfen. Das trifft etwa für die Helios-GmbH zu, deren Muttergesellschaft Fresenius KG zu relevanten Teilen Finanzinvestoren wie Blackrock und DWS gehört. Wie will man verfassungsrechtlich begründen, dass der Betrieb eines Krankenhauses (mittelbar) durch einen renditeorientierten Finanzinvestor unbedenklich, die Gründung eines MVZ durch dieses Krankenhaus aber aus versorgungspolitischen Gründen unerwünscht ist? Verfassungsrechtlich ist der Gesetzgeber grundsätzlich frei, welchen Gefährdungen des Gemeinwohls er entgegentreten will, und eine regulatorische Maßnahme wird nicht allein deshalb verfassungswidrig, weil der Gesetzgeber andernorts Missstände nicht beseitigt. Verfassungsrechtlich relevant ist aber der Gesichtspunkt der Erforderlichkeit des Eingriffs. Kann die Notwendigkeit des Ausschlusses von Finanzinvestoren vom Betrieb von MVZ wirklich belegt werden, wenn man solchen Investoren die Möglichkeit lässt, Krankenhäuser zu betreiben, für deren Betrieb dieselben Gefährdungen von einer reinen Renditeorientierung ausgehen? Der Umsatz von Krankenhäusern und deren Einfluss auf die Versorgung ist jedenfalls deutlich größer als derjenige des ambulanten Sektors.
Vorrang weniger gravierender Maßnahmen
Schließlich spielt die Erforderlichkeit als Prüfungsmaßstab für regulatorische Eingriffe auch in einer anderen Hinsicht eine wichtige Rolle. Ein vollständiges Verbot investorenbetriebener MVZ ist nur zulässig, wenn die damit angestrebten Ziele nicht mit weniger harten Maßnahmen erreicht werden können. Für den vertragszahnärztlichen Versorgungsbereich sind solche mit dem TSVG eingeführt worden, um den Anteil einzelner MVZ an der Versorgung in einem Planungsbereich zu begrenzen. Ob das sinnvoll und umsetzbar ist, mag auf sich beruhen; verfassungsrechtlich müsste jedenfalls belegbar sein, dass damit und ergänzend mit Hilfe von umfassenden Transparenzanforderungen Gefährdungen der ambulanten ärztlichen Versorgung nicht begrenzt werden könnte. Zumindest müsste der Gesetzgeber vor einem völligen Verbot investorenbetriebener MVZ wohl vorschreiben, dass ein Krankenhaus MVZ nur noch in seinem räumlichen Einzugsbereich und für die Fachrichtungen gründen darf, die auch im Haus angeboten werden. Die positiven Auswirkungen für eine sektorenübergreifende Versorgung, die davon ausgehen sollen, dass ein Investor ein kleines Krankenhaus der Grundversorgung im Westerwald kauft und damit augenärztliche MVZ in ganz Deutschland gründet, sind zumindest mir noch nicht klar.