Im Fokus
13.05.2024
Nachgefragt bei …
Dr. Andreas Gassen
Wie steht es um die ambulante Versorgung?
Sie läuft Gefahr, selbst ein Fall für den Arzt zu werden. Diese Sorge ist leider sehr konkret und berechtigt. Die ambulante Versorgung steht auf dem Spiel, wenn die entsprechenden Strukturen wegbrechen, oder besser gesagt: absichtlich weggebrochen werden. Laut einer großen Umfrage des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung überlegen 61 Prozent der Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, aufgrund der aktuellen Rahmenbedingungen früher als geplant ihre Praxis aufzugeben. Betrachtet man die Ärzteschaft allein, sind es sogar 70 Prozent. Und diese Sorge um die Zukunft der ambulanten Versorgung ist längst bei den Bürgerinnen und Bürgern angekommen.
Ende März/Anfang April hat das Meinungsforschungsunternehmen Civey über 5.000 gesetzlich Versicherte befragt. Über 62 Prozent sahen, dass sich die Praxen aktuell in einer Notlage befinden. Die Hälfte der Befragten macht sich Sorgen darüber, dass die von ihnen genutzte Praxis in naher Zukunft schließen könnte. Leider scheint das den politisch Verantwortlichen, vor allem im Bundesministerium für Gesundheit (BMG), entweder nicht klar oder aber schlicht egal zu sein. Minister Karl Lauterbach produziert mit seinen Gesetzesvorlagen ständig nur Pseudo-Lösungen – oder schafft neue Probleme, wie jetzt mit dem sogenannten Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG).
Wie beurteilen Sie die aktuellen Gesetzespläne aus dem BMG?
Was ich sagen kann: Unsere Hinweise zur Verbesserung der ambulanten Versorgung werden vom BMG in weiten Teilen konsequent ignoriert. Möglicherweise passt hier auch die versorgungspolitische Realität nicht zur politischen Ideologie. Zwar sind neue arztersetzende und zentralistische Strukturen wie die Gesundheitskioske oder Primärversorgungszentren aktuell erst einmal raus aus dem Gesetzentwurf zum GVSG. Man kann aber davon ausgehen, dass das BMG versuchen wird, diese durch die Hintertür wieder reinzubekommen, als Verhandlungsmasse im parlamentarischen Verfahren. Denn für das, was der Minister vorhat, braucht er Kioske und andere pseudomedizinische Strukturen, die er dann mit der omnipotenten künstlichen Intelligenz (KI) für die medizinische Primärversorgung ertüchtigen will.
In unserer Stellungnahme zum Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) haben wir als KBV zum wiederholten Mal deutlich gemacht, dass die Sektoren nicht isoliert voneinander zu betrachten sind, sondern dass ein Umbau der Krankenhauslandschaft mit einer Ertüchtigung der ambulanten Versorgung und entsprechenden Investitionen einhergehen muss. Leider scheint die gesundheitspolitische Realität das BMG nicht mehr zu interessieren. Unsere Vorschläge verhallen ungehört.
Aber was soll´s? Die Krankenhausreform ist in den Worten des Ministers „too big to fail“, womit er wahrscheinlich meint: alternativlos. Deshalb glaubt er wohl auch, das Ganze einfach durchziehen und die Bedenken nahezu aller Akteure im Gesundheitswesen ignorieren zu können. Und seine Ambitionen gehen noch weiter. Kürzlich hat er den „Generalumbau unseres Gesundheitswesens“ angekündigt. Darunter macht er es nicht mehr. Meines Erachtens ist das für die Menschen in unserem Land durchaus auch als Drohung zu verstehen.
Was bedeutet das alles für die sogar im Koalitionsvertrag verankerte Förderung der Ambulantisierung?
Auch wenn sich Karl Lauterbach gerne zukunftsorientiert gibt und immer wieder beteuert, er wolle die Versorgung in den Praxen stärken, sind das, freundlich formuliert, reine Lippenbekenntnisse. Der Minister hat andere Pläne. So hat er kürzlich, zufällig in die Diskussion um das GVSG hinein, einen alten Hut aus der gesundheitspolitischen Mottenkiste geholt: die sogenannte doppelte Facharztschiene. Solche Doppelstrukturen in Klinik und Praxis könne man sich nicht länger leisten, meint der Minister. Muss man eigentlich auch nicht – die gibt es nämlich gar nicht.
Fachärztliche Leistungen, die in Praxen stattfinden, können die Krankenhäuser schon aus personellen Gründen meist gar nicht mehr erbringen und der medizinisch-technische Fortschritt trägt seinen Teil zu dieser Verlagerung bei. Alle Welt geht den Weg einer stärkeren Ambulantisierung der Versorgung. Damit ist aber nicht gemeint, überflüssige Krankenhausstandorte zu pseudo-ambulantisieren, um sie am Leben zu erhalten. Niemand würde freiwillig als Ärztin oder Arzt in diesen Strukturen bleiben oder gar dorthin wechseln. Das hat man offensichtlich erkannt und die Lösung ist schon skizziert.
Die haus- und fachärztlichen Praxen bewältigen über 550 Millionen Behandlungsfälle jährlich in ihren angeblich „überflüssigen Doppelstrukturen“. Es dürfte interessant werden, wie diese Leistungsmenge an dann verbliebene Krankenhausstandorte verlagert werden soll – Strukturen, die aktuell insgesamt 14 Millionen Fälle stationär versorgen und knapp neun Millionen im Notdienst.