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29.05.2024

Dr. Anke Pielsticker

„Wünsche mir, dass man die Psychotherapie noch mehr im Blick hat“

Dr. Anke Pielsticker ist seit 2003 niedergelassen – und seit letztem Jahr stellvertretende Vorsitzende der KBV-VV. Foto: © axentis.de / Georg J. Lopata

Dr. Anke Pielsticker ist Psychologische Psychotherapeutin und stellvertretende Vorsitzende der Vertreterversammlung (VV) der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Im Klartext-Interview spricht sie über ambulante Weiterbildung, Nähe in der Psychotherapie und den Spagat zwischen eigener Praxis und Berufspolitik.

Frau Dr. Pielsticker, Sie sind jetzt seit über einem Jahr stellvertretende Vorsitzende der KBV-Vertreterversammlung. Wie haben Sie diese Zeit bisher erlebt?

Es ist für mich eine Ehre, von der Vertreterversammlung für die Aufgabe der stellvertretenden Versammlungsleitung gewählt worden zu sein. Ich erlebe die stellvertretende Position als eine fordernde und verantwortungsvolle Tätigkeit. Die anfallende Übernahme der Sitzungsleitung, zum Beispiel innerhalb der Fachkommission der Ehrenamtler, ist anspruchsvoll und bereitet mir gleichzeitig viel Freude. Im Rahmen der Strategiekonferenzen erhalte ich gute Einblicke in die internen Entscheidungsprozesse. Als Vertreterin meiner Profession finde ich es wichtig, die Sicht der Versorgung und meine psychotherapeutische Expertise dort einbringen zu können. Ein gutes Beispiel ist die Kampagne „Wir sind für Sie nah.“, die jetzt ja gestartet ist, wo ich eine versorgungsnahe Haltung einbringen und die Perspektive um die psychotherapeutische Versorgungsrealität ergänzen konnte. Es ist gut, dass die verschiedenen Professionen, also sowohl Hausärzte, Fachärzte als auch Psychotherapeuten, frühzeitig informiert sind und sich einbringen können. Diese Möglichkeiten bereichern meine Tätigkeit in der KBV. Das Zusammenbringen verschiedener Sichtweisen der Leistungserbringer ist zentral für ein gelingendes kooperierendes Miteinander der zahlreichen Fachrichtungen.

Wie bewerten Sie die aktuelle Gesundheitspolitik? Fühlen Sie sich als niedergelassene Psychotherapeutin von Ministerium und Bundestag gehört?

Ich habe das Gefühl, dass unsere Anliegen insgesamt in der Politik nicht wirklich ernst genommen werden. Ein wichtiges Thema ist für uns Psychotherapeuten die Finanzierung der Weiterbildung. Nach einer Petition mit bemerkenswerter Beteiligung gehen die Psychotherapeuten dafür jetzt auf die Straße. Dabei geht es um den neuen Masterstudiengang Psychotherapie mit anschließender Weiterbildung zum Fachpsychotherapeuten. Für die Umsetzung der Weiterbildung brauchen wir Finanzierungsgrundlagen und das ist im Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) nicht genügend aufgegriffen worden. Die geplanten Regelungen zur Weiterbildung gehen in die richtige Richtung, greifen aber zu kurz. Wir begrüßen, dass die Möglichkeit geschaffen wurde, dass Weiterbildungsambulanzen direkt mit den Krankenkassen verhandeln können. Eine Regelung zur Behebung der finanziellen Deckungslücke für die Weiterbildung in Praxen und Kliniken fehlt jedoch völlig.

Die abgeschlossene Weiterbildung ist die Grundlage unseres Berufs und wir müssen leider feststellen, dass diese noch nicht ausreichend finanziell abgesichert ist. Hier müssen wir uns deutlich mehr Gehör verschaffen und weiter eine politische Regelung einfordern.

Andersherum gefragt: Was würden Sie sich idealerweise von den politisch Verantwortlichen wünschen?

Ich würde mir wünschen, dass man auch die Psychotherapie noch mehr im Blick hat. In Anbetracht von hohen Erkrankungszahlen und immensen volkswirtschaftlichen Schäden durch psychische Erkrankungen, hat die Psychotherapie einen großen Stellenwert in der Versorgung. Es sollte von den politisch Verantwortlichen mehr Regelungswillen geben und weniger gebremst werden. Wir haben zum Beispiel die Richtlinie zur koordinierten Versorgung schwer psychisch Kranker (KSV-Psych-Richtlinie). Hier finden sich zahlreiche bürokratische Hürden und unnötige Doppeluntersuchungen, genauso wie nicht zumutbare Fristen und Beschränkungen. Ebenfalls wurden halbe Vertragsarztsitze nicht ausreichend mit einbezogen, was die Versorgungsrealität unzureichend widerspiegelt.

 

Ich finde es wichtig, weiterhin nah dran zu sein. Denn nur so kann ich wissen, was in den Praxen benötigt wird und wofür ich mich einsetzen muss.

 
Es braucht außerdem darüber hinaus gehende Regelungen zur Weiterentwicklung der ambulanten Versorgung: Fallkonferenzen müssen stärker gefördert und sektorenübergreifende Behandlungspfade ausgebaut werden. Zur Vorbereitung einer nahtlosen ambulanten Weiterbehandlung muss die psychotherapeutische Sprechstunde in psychotherapeutischen Praxen bereits während des stationären Aufenthalts online und in Präsenz ermöglicht werden. Wir begrüßen zudem den im GVSG angelegten Verzicht auf den Konsiliarbericht im Überweisungsfall zu Beginn einer Richtlinienpsychotherapie. Der Konsiliarbericht ist darüber hinaus auch entbehrlich bei Vorlage eines Entlassberichts im Anschluss an eine stationäre Behandlung.
 
Ein weiteres Thema sind unsere Behandlungskapazitäten: Wir müssen viel versorgen, haben aber immer noch nicht ausreichend flexible Möglichkeiten in der Leistungserbringung. Wenn wir im Jobsharing arbeiten, sind wir kontingentiert und auch bei der Anstellung von Kollegen unterliegen wir Leistungsbegrenzungen. Das ist wirklich ein Problem. In der Pandemie zum Beispiel waren die Leistungsanforderungen in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung nochmals erhöht, während in Kliniken die Fallzahlen rückläufig waren. Insofern wäre es wünschenswert, mehr Gestaltungsmöglichkeiten im ambulanten System zu haben. Außerdem sollte unsere psychotherapeutische Expertise in Gremien mehr genutzt werden. Es gibt Krisenstäbe bei Unwettern, Katastrophen, bei Flutkatastrophen und auch in der Pandemie. Hier müssen deutlich regelhafter Psychotherapeuten mit einbezogen werden.
Als „ein wichtiges Sprachrohr in der Öffentlichkeit“ bezeichnet Dr. Pielsticker die Selbstverwaltung mitsamt KBV-Vertreterversammlung. Foto: KBV/Hendrik Schmitz

Sie sind seit 2007 berufspolitisch engagiert. Wie gelingt Ihnen der Spagat zwischen eigener Praxis und Berufspolitik?

Mir ist es nach wie vor wichtig, in der Praxis tätig zu sein. Meine Tätigkeit als Psychotherapeutin erlebe ich als sehr bereichernd. Ich bin in der Regel an mindestens zwei Tagen der Woche in der Praxis. Ich habe neben der KBV auch noch andere Ämter in der Psychotherapeutenkammer und im Berufsverband. Ich bin dennoch bemüht, regelmäßig in der Praxis zu sein, um die Versorgung der Patienten zu gewährleisten. Ich finde es wichtig, weiterhin nah dran zu sein. Denn nur so kann ich wissen, was in den Praxen benötigt wird und wofür ich mich einsetzen muss. Herausfordernd sind für mich schwerst erkrankte Patienten, die eine sehr hochfrequente und regelmäßige Betreuung benötigen. Wenn im Therapieverlauf ein Trauma aufgedeckt wird, kann ich diese Patienten nicht einfach an eine Kollegin übergeben, sondern muss sie intensiv und verantwortungsvoll versorgen. Das bringt mich manchmal schon in Zugzwang und Zeitnöte.
 
Hilfreich sind da natürlich Sicherstellungsassistenten. Ohne die wären meine berufspolitischen Tätigkeiten gar nicht möglich. Nur so können die vielfältigen Anfragen von Patienten beantwortet werden. Allerdings bringt das auch erheblichen organisatorischen Aufwand mit sich und braucht Kollegen, die diesen Job auch erfüllen. Insofern ist es eine echte Herausforderung, die Tätigkeit in der eigenen Praxis neben der Berufspolitik zu bewältigen.

Welche Bedeutung hat für Sie die Selbstverwaltung generell?

Ich finde es wichtig, dass wir die Versorgung von Patienten als freier Beruf in den Gremien der Selbstverwaltung entwickeln können. Wir vertreten den Berufsstand als Profession gegenüber der Politik und den Krankenkassen und die Selbstverwaltung ist ein wichtiges Sprachrohr in der Öffentlichkeit. Die KBV hat die Möglichkeit, Themen von bundesweiter Relevanz zu platzieren. Wir hatten in der VV gerade beispielsweise das Thema Weiterbildungsoffensive. Das ist in der KBV sehr ernst genommen worden. Es hat viele Workshop-Termine gegeben, es wurde ein Konzept erarbeitet und es wird noch weiter daran gearbeitet.
 
 
Wir müssen viel versorgen, haben aber immer noch nicht ausreichend flexible Möglichkeiten in der Leistungserbringung.
 
Wir haben über die KBV auch die Möglichkeit, in anderen Gremien präsent zu sein. Im letzten Jahr habe ich im Unterausschuss Post-Covid im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) eine entsprechende Richtlinie mitgestaltet. Psychotherapeuten sind mittlerweile in allen relevanten KBV-Ausschüssen vertreten sowie in den G-BA-Unterausschüssen Qualitätssicherung, Psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung, Bedarfsplanung und im Bewertungsausschuss. Diese Mitgestaltungsmöglichkeiten bietet uns die Selbstverwaltung.
 
Was ich manchmal schwierig finde: In der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Bayerns sind wir nah am Geschehen – und müssen gegenüber Mitgliedern vertreten, was wir in der KBV machen. Wenn es zum Beispiel um Sanktionen geht, etwa für TI-Verweigerer oder Befüllungspflichten der elektronischen Patientenakte (ePA), verlangt es uns zum Teil viel ab, diese Pflichten, die sich aus gesetzlichen Vorgaben ergeben, den Kollegen plausibel zu vermitteln.

„Wir sind für Sie nah.“ lautet die neue KBV/KV-Kampagne. Was bedeutet Nähe für Sie als Psychologische Psychotherapeutin?

Ich würde Nähe mit zwei Aspekten verbinden: Zum einen natürlich die emotionale Nähe, die wir in der psychotherapeutischen Beziehung haben. Die steht und fällt mit dem Präsenzkontakt mit den Patienten. Genau darum geht es ja auch in der Kampagne: Wir brauchen die Praxen weiterhin für die Versorgung und müssen auch in Präsenz arbeiten, um einen guten Job zu machen. Das geht nur mit emotionaler Nähe zum Patienten.
In der neuen Kampagne von KVen und KBV findet auch die Psychotherapie Gehör. Foto: KBV

Zum anderen geht es um geografische Nähe: Die Praxen müssen wohnortnah und erreichbar bleiben. Das sehe ich auch als Gegenpol zu Bestrebungen, flächendeckend videogestützte Behandlungen zu etablieren. Videogestützte Behandlungen sind eine wichtige Ergänzung in der Versorgung, aber ich muss gut auswählen, mit welchen Patienten ich so arbeiten kann und muss vor allem jederzeit zwischen einer Behandlung in Präsenz und per Video wechseln können. Dazu muss eine wohnortnahe Versorgung zwingend erhalten bleiben.

Auch die psychotherapeutischen Kolleginnen und Kollegen werden immer älter. Über 30 Prozent sind 60 Jahre oder älter. Was braucht es, um die niedergelassene Psychotherapie für die Zukunft zu wappnen?

Zum einen stellen wir fest: Psychische Erkrankungen in der Bevölkerung nehmen stetig weiter zu – gerade in Krisenzeiten mit Krieg, menschlichen Katastrophen und der Klimakrise. Psychisch kranke Menschen brauchen möglichst zeitnah eine Behandlung. Die Psychotherapie wird daher auch zukünftig stark nachgefragt sein. Etwa 40 Prozent der Anfragen bei den Terminservicestellen beziehen sich auf die Psychotherapie. Außerdem haben wir zunehmend auch ältere Patienten in den Praxen.
 
 

Wir brauchen die Praxen weiterhin für die Versorgung und müssen auch in Präsenz arbeiten, um einen guten Job zu machen.

 
Apps oder ChatGPT sind in Einzelfällen eine nützliche Unterstützung, aber keine Alternative zum persönlichen Kontakt in der Praxis. Dafür braucht es Nachwuchs – und eine gute Förderung desselben. Eine zentrale Rolle nimmt da die neue Weiterbildung ein. Wenn wir die nicht finanziert bekommen, dann haben wir auch ein Problem mit dem Nachwuchs. Insbesondere die Weiterbildung in den ambulanten Praxen muss gefördert werden. Man gewinnt die Kolleginnen und Kollegen nur für eine Niederlassung, wenn sie auch Einblick haben in die Praxen. Die jungen Kollegen sind aktuell allerdings stark verunsichert und tendieren dazu, nach Abschluss ihres Studiums gar nicht in die klinische Tätigkeit zu gehen. Denn derzeit wissen sie überhaupt nicht, welche konkreten Bedingungen sie dort vorfinden werden.
 
Die Vorsitzenden der KBV-Vertreterversammlung (v.l.n.r.): Dr. Anke Pielsticker, Dr. Petra Reis-Berkowicz und Dr. Rolf Englisch. Foto: © axentis.de / Georg J. Lopata
Von älteren Kollegen höre ich wiederum, dass sie ihre Praxis frühzeitig abgeben wollen. Und zwar deswegen, weil sie mit der Bürokratie, den Problemen der Telematikinfrastruktur (TI) und der geplanten Qualitätssicherung für ambulante Psychotherapie einfach nichts mehr zu tun haben wollen. Wenn sie jetzt zunehmend unter Druck gesetzt werden mit finanziellen Sanktionen, dann hören die auf. Da gehen uns Plätze verloren von Kollegen, die vielleicht noch ein paar Jahre weitergearbeitet hätten. Wir brauchen also bessere Rahmenbedingungen, weniger Bürokratie mit Formularen und ständigen Antragsstellungen. Es muss mehr Nutzen bringende Digitalisierung in den Praxen geben, indem zum Beispiel das Gutachterverfahren digitalisiert wird. Es braucht außerdem Einstellungsmöglichkeiten für junge Kollegen, beispielsweise stundenweise in der Praxis mitzuarbeiten – da brauchen wir mehr Flexibilität. Der Beruf des Psychotherapeuten muss angemessen vergütet werden und auch soziale Wertschätzung erfahren. So kann die Attraktivität des Berufs in der Niederlassung nochmals gesteigert werden.
 
 

Die Fragen stellte Hendrik Schmitz