• Klartext
  • Interview
  • „Vieles haben wir noch nicht erreicht, sind aber auf einem guten Weg“

30.09.2024

Nezahat Baradari

„Vieles haben wir noch nicht erreicht, sind aber auf einem guten Weg“

Um Bürokratie abzubauen, müsse man auch von der Misstrauenskultur gegenüber niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten wegkommen, sagt Baradari. Foto: KBV / Celina Ritter
Nezahat Baradari kennt Gesundheitspolitik aus zwei Perspektiven: Sie ist niedergelassene Kinder- und Jugendärztin. Zudem ist die Mutter von zwei Töchtern seit 2019 Mitglied des Deutschen Bundestags. Im Klartext-Interview spricht die SPD-Politikerin über die aktuellen Gesetzesinitiativen, die Sorgen der Vertragsärzteschaft und ihren Draht zu Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach.

Eine Praxis als Kinder- und Jugendärztin in Attendorn und ein Bundestagsmandat in Berlin – wie schaffen Sie das?

Es ist eine Herausforderung. Ohne einen angestellten Kollegen in Vollzeit wäre das nicht möglich. Ich bin auch an Wochenenden und außerhalb der normalen Sprechzeiten dort. Meine Urlaube sind kürzer geworden. Termine versuche ich so zu arrangieren, dass ich mehrere Freunde und Bekannte auf einmal treffen kann, statt viele einzelne kleine Treffen zu organisieren. Letztlich spielt Organisation eine sehr wichtige und große Rolle. Ohne dass meine Familie das mitmacht, wäre es wirklich schwierig. Meine beiden Kinder waren beispielsweise mitten im Abitur-Stress, als ich jedes Mal im Bundestagswahlkampf war. Das war auch für meine Familie eine große Herausforderung. Aber ich bin sehr dankbar für die Unterstützung.
Hier in Berlin habe ich als Abgeordnete einige Pflichttage. Einiges erledige ich für die Patienten dann auch, wie heutzutage glücklicherweise möglich, per Videosprechstunde oder über Telefonate. Da kann ich einen Teil abfedern. Ich bin auch fast jedes Wochenende in meinem Wahlkreis und dann auch vor Ort. Schließlich habe ich weiterhin die unternehmerische Verantwortung für die Praxis. Insofern versuche ich, Praxistermine in diesen Zeitfenstern unterzubringen.
 

Wie wichtig ist die flächendeckende, wohnortnahe Versorgung und deren Erhalt für die Bürgerinnen und Bürger – einerseits aus medizinischer, aber gleichwohl aus gesellschaftlicher Sicht?

Das ist sehr wichtig. Ob es ein Postamt in der Nähe gibt, ob es eine Kindertagesstätte in der Nähe gibt, ob es die Polizei oder die Feuerwehr gibt – das gehört im Grunde genommen zu einer guten Infrastruktur dazu, wie eben Arztpraxen. Wir wissen aus verschiedenen Studien, dass Menschen, die in eine neue Stadt oder Umgebung ziehen wollen, erst mal schauen, welche Ärztinnen und Ärzte es vor Ort gibt. So gesehen ist das eine Schlüsselposition, die wir dort innehaben – mit einer lokalen, guten Versorgung der Bevölkerung. Insofern ist eine wohnortnahe ambulante Versorgung gesellschaftlich, politisch, sozial, aber auch aus Demokratiegesichtspunkten sehr wichtig.
 
Unter der Woche Berlin, am Wochenende Sauerland: Attendorn gehört nicht nur zum Wahlkreis Baradaris, sie hat hier auch ihre eigene Praxis. Foto: IMAGO / Volker Preußer

Aus Ihrer Perspektive als niedergelassene Ärztin: Wie gut oder schlecht sind die Rahmenbedingungen für die ambulante Versorgung? Was muss sich verändern?

Letztlich sind es zwei Seiten einer Medaille. Wenn sich heute jemand als Facharzt oder -ärztin niederlassen möchte, waren die Bedingungen, um einen Sitz zu bekommen, noch nie so gut, glaube ich. Manche übergeben sogar ihre Praxen, ohne dafür etwas monetär haben zu wollen. Die Praxen werden ja teilweise verschenkt. Diese Möglichkeiten sind besser geworden. Auf der anderen Seite ist es schwieriger geworden, weil die unternehmerische Herausforderung einer Praxis heutzutage eine viel größere ist. Es erfordert neben der Anwerbung von Personal, neben einer guten Infrastruktur natürlich auch die Einrichtung der Praxis. Nicht nur mit ein paar Stühlen und Liegen, sondern mit dem entsprechenden technischen Aufwand.
 
 
Insofern ist eine wohnortnahe ambulante Versorgung gesellschaftlich, politisch, sozial, aber auch aus Demokratiegesichtspunkten sehr wichtig.

Das merken wir auch in vielen anderen Branchen. Dafür muss man mit einem hohen Eigenkapital erst mal in Vorleistung gehen, bis sich das irgendwann amortisiert. Die Investitionskosten sind nach wie vor hoch, gerade wenn man eine moderne, gut bestückte Praxis haben möchte. In der Hinsicht ist es schwieriger geworden. Auch was das Bürokratische, was den Protokollaufwand angeht, ist es definitiv mehr geworden. Ganz ohne Bürokratie geht es nicht. Aber wir sollten auch mal schauen, dass wir von dieser Misstrauenskultur etwas wegkommen und ebenso moderne Tools einsetzen. Nehmen Sie beispielsweise Spracherkennungssysteme. Die sind jetzt vielleicht noch nicht ganz hundertprozentig ausgereift. Aber darin sehe ich in der Zukunft eine Chance, dass der Arzt oder die Ärztin diktiert und das Ganze wird automatisiert in die Patientendokumentation übernommen.

Seit 2019 ist Baradari Mitglied des Bundestages. Foto: IMAGO / dts Nachrichtenagentur

Wie intensiv stehen Sie im Austausch mit Ihren Kolleginnen und Kollegen aus den Praxen in Ihrem Wahlkreis und darüber hinaus? Wie ist die Stimmung, die Sie dort einfangen?

Natürlich bin ich im telefonischen und persönlichen Austausch. Es gibt Qualitätszirkel. Und es gibt zum Beispiel in meinem Wahlkreis Möglichkeiten zum Online-Austausch. Dort werden sehr schnell und sehr kooperativ auch Probleme angesprochen und Hilfen gegeben. Zum Beispiel wenn eine Kollegin fragt, wo ist das nächste Hormonzentrum für Kinder. Insofern findet da ein sehr enger fachlicher Austausch statt – ebenso zu Fragen jenseits des Fachlichen. Ich bin froh, dass ich die Entbudgetierung für die Kinder- und Jugendärzte erreicht habe. Das darf ich mir wirklich mit an mein Revers heften. Bei diesem Thema haben wir entsprechend Druck gemacht und das ist auch durchgegangen. Das ist eine gute Sache. Wobei man sagen muss, es geht um die Entbudgetierung der mengenbegrenzten Volumina.
 
Das war gut. Aber der Unmut der niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte, natürlich auch der anderen, ist zum Beispiel schon vorhanden, was die Novellierung der GOÄ (Gebührenordnung für Ärzte – d. Red.) angeht. Sie sind auch nicht alle mit dem Ergebnis zufrieden, welches die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) kürzlich bei den Finanzierungsverhandlungen erzielt hat. Wenn wir uns nur anschauen, wie hoch die Inflationsrate ist: Die Preise sind nicht zurückgegangen. Die Energiepreise sind auch für uns Ärztinnen und Ärzte gestiegen, die Materialkosten haben sich verdoppelt, die Preise der Software-Dienstleister sind teurer geworden. Wir möchten unsere Angestellten besser bezahlen. Da sehen viele Kolleginnen und Kollegen aus den Praxen große Probleme. Der Umsatz mag zwar gut sein, aber die Kosten sind auf der anderen Seite immens gestiegen, so dass kein Mehrwert bleibt. Und das bewirkt nicht unbedingt eine gute Stimmung bei den Kolleginnen und Kollegen.
 
Als Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin ist Baradari auch Mitglied im Gesundheitsausschuss des Bundestages. Foto: KBV / Celina Ritter

Einige Gesetze sind auf dem Weg – z. B. Krankenhausreform, Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG), Notfallreform, Gesundes-Herz-Gesetz. Wie helfen diese Vorhaben den Niedergelassenen?

In der Tat gibt es sehr viele Gesetzesvorhaben. Wir haben einen wirklich sehr engagierten Gesundheitsminister. Keiner wird bestreiten, dass wir zum Beispiel im Krankenhausbereich eine Reform brauchen, weil die schon seit Jahrzehnten nicht angepackt wurde. Das Gleiche gilt für die Digitalisierung. Wir haben jetzt erst mal mit dem elektronischen Rezept (eRezept) oder mit der elektronischen Patientenakte (ePA), die wir noch umsetzen werden, wirklich große Vorhaben, an die er sich herangetraut hat. Das ruft natürlich auch sehr viel Widerstand hervor, weil es etwas Neues ist. Das heißt, da müssen alle etwas aus ihrer Komfortzone heraus. Ich hoffe, dass die Entbudgetierung für die hausärztlichen Kolleginnen und Kollegen, aber natürlich auch für die fachärztlichen Kolleginnen und Kollegen kommt. Das, was ich für die Kinderärztinnen und -ärzte gesagt habe, gilt hier nicht minder. Im niedergelassenen Bereich ist es schließlich so, dass man natürlich mit seinem privaten Vermögen haftet und unternehmerisch in besonderer Verantwortung ist. Da wünsche ich mir mehr Erleichterung.
 
Was die Krankenhausreform angeht, hoffe ich auf eine baldige Einigung zwischen den Ländern und dem Bund, weil jede Woche, die wir warten, bedeutet letztendlich für die Leistungserbringer eine Verzögerung und mehr Kosten. Ich erwarte, dass die Länder ihre Blockadehaltung aufgeben und wir an der einen oder anderen Stelle noch nachbessern können. Hoffentlich werden unsere Forderungen vom Bundesgesundheitsministerium (BMG), gerade im Hinblick auf die Pädiatrie, gerade im Hinblick auf die Kinder- und Jugendchirurgie berücksichtigt. Es geht um eine pragmatische Umsetzung, auch vor dem Hintergrund der angespannten Finanzsituation.
Auf der anderen Seite ist es schwieriger geworden, weil die unternehmerische Herausforderung einer Praxis heutzutage eine viel größere ist.

Wie sieht Ihr persönlicher Austausch mit Gesundheitsminister Karl Lauterbach aus – vor allem mit Blick auf Themen, die die Versorgung betreffen?

Also ich bin in einem guten Austausch mit unserem Gesundheitsminister und bin auch dankbar, dass er wirklich immer ein Ohr für mich hat und – wenn ich das aus meiner Perspektive sagen darf – auch meine kinder- und jugendärztliche Perspektive aus der ambulanten Sicht sehr schätzt. Auch letztes Jahr, als es wirklich aufgrund von RSV-Infektionen zu Versorgungsengpässen gekommen ist – unter anderem beim Personal –, da hat er auch sehr schnell auf meine Bitte reagiert, zum Beispiel die Personaluntergrenzen für kurze Zeit auszusetzen und auf einige andere Sachen. Wir haben einen guten Draht. Also wir simsen dann auch mal hier und da.
 
Im Gespräch mit dem Klartext: "Wir simsen dann auch mal hier und da", sagt Baradari über ihren Draht zu Minister Lauterbach. Foto: KBV / Celina Ritter

Im Koalitionsvertrag der Ampel, der unter dem Eindruck der Corona-Pandemie entstanden ist, war von einem „Aufbruch in eine moderne sektorübergreifende Gesundheits- und Pflegepolitik“ die Rede. Was sehen Sie in puncto Gesundheitspolitik als erledigt an, was wird in dieser Legislaturperiode noch passieren?

Man muss so ehrlich sein, dass wir vieles noch nicht erreicht haben, aber auf einem guten Wege sind – zum Beispiel was die Arzneimittellieferengpässe angeht. Unser Gesundheitsminister hat sich kürzlich unter anderem mit dem chinesischen Gesundheitsminister getroffen, weil es hier um Herausforderungen geht, die wir alleine in Deutschland nicht lösen können, sondern da wirklich Lösungen im europäischen bzw. im internationalen Kontext benötigen. Auch das EU-Pharma-Paket soll dazu führen, dass wir mehr Pharma-Anbieter in Europa, wenn nicht in Deutschland konzentrieren. Auch das Bundeskanzleramt hat die industrielle Gesundheitswirtschaft wirklich im Fokus. Da gibt es von Regierungsseite aus große Unterstützung, weil die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln ebenso zur kritischen Infrastruktur gehört.
 
Was den Bereich Pflege angeht, da haben wir noch vieles vor, aktuell das Pflegeassistenzeinführungsgesetz. Nun wurde ja auch noch eine grundlegende Pflegereform angekündigt. Wir müssen sehen, wie sich das entwickelt. Und da haben wir aufgrund der demografischen Situation einer älter werdenden Bevölkerung, die glücklicherweise auch durch die moderne Medizin älter wird, wirklich eine große Herausforderung vor der Brust.
 

Wir wollen die Sektorengrenzen aufweichen. Auch das ist noch eine Herausforderung.

 
Auch in der GKV steigen die Kosten. Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann wäre es, dass wir es schaffen, dass Beitragszahler nicht versicherungsfremde Leistungen mit ihren Beiträgen mitfinanzieren müssen, wie zum Beispiel die Versicherung von Empfängerinnen und Empfängern von Arbeitslosengeld oder von Bürgergeld. Wir sind hier innerhalb der verschiedenen Häuser auch mit dem Bundesfinanzminister im Clinch. Da muss noch einiges verbessert werden.
 
Gut ist, dass die Hybrid-DRGs auf den Weg gebracht wurden. Die werden auch teilweise kritisch gesehen, das muss man auch sagen. Wir wollen die Sektorengrenzen aufweichen. Auch das ist noch eine Herausforderung. Man wird sehen, was im Rahmen des GVSG noch umsetzbar ist. Für alle unsere Reformen gilt: Bis das alles wirklich wirkt, wird es – da müssen wir ehrlich sein – Jahre dauern. In diesem jahrelangen Prozess wird es die eine oder andere Verbesserung geben müssen. Das werden die Evaluationen, das werden die Rückmeldungen zeigen. Wichtig ist, dass wir viele Dinge überhaupt endlich angeschoben haben.
 

Die Fragen stellte Thomas Schmitt