22.02.2023
Dr. Thomas Kriedel
„Man sollte der Selbstverwaltung wieder mehr Luft zum Atmen geben“
Über 40 Jahre ist Dr. Thomas Kriedel fest im KV-System verankert. Mehr als drei Jahrzehnte hat er in verschiedenen Funktionen für die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) gearbeitet. Für die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) war er ziemlich am Anfang und zum Schluss seines Berufslebens tätig. Nun endet seine sechsjährige Amtszeit als KBV-Vorstand. Im Klartext-Interview zieht er Bilanz, plädiert für die Stärkung der Selbstverwaltung und spricht über das Potenzial der Digitalisierung.
Nach sechs Jahren als KBV-Vorstand: Wie lautet das Fazit Ihrer Amtszeit?
Ich bin seit 42 Jahren im KV-System tätig und bin ein Anhänger der Selbstverwaltung. Mir war es daher wichtig, dass es uns als Vorstand in dieser Legislaturperiode gelungen ist, die KBV wieder zu einem Schwergewicht in der Gesundheitspolitik zu machen, damit wir Einfluss für unsere Praxen, aber auch für die Versorgung, für die Patienten nehmen können.
Die Möglichkeiten der gemeinsamen Selbstverwaltung sind seit meiner Anfangszeit in der KBV im Jahr 1981 deutlich eingeschränkt worden. Schließlich sind wir Teil der staatlichen Daseinsfürsorge. Ursprünglich war es so angelegt, dass der Staat nur den Rahmen setzt und die Betroffenen ihn ausgestalten. Und die Beteiligten – Krankenkassen und Ärzte – wissen am besten, wie die Bedingungen gestaltet werden müssen. Auf die Ausgaben achten die Kassen. Bei den inhaltlichen Fragen wissen wir über die Arztpraxen am besten Bescheid, was gebraucht wird. So kann man sich über die Bedingungen und die Finanzen einigen. Dieser Spielraum ist zunehmend zurückgedreht worden.
Auch unsere eigenen Zuständigkeiten in der ärztlichen Selbstverwaltung sind zurückgefahren worden. Am Anfang haben wir als KV-System auch die Qualitätssicherung selbst gemacht. Dann wurde es ein Teil des Bundesmantelvertrags gemeinsam mit den Kassen. Inzwischen ist im Grunde der Weg geebnet, dass auch bei der Qualitätssicherung alles über den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) geht. Das halte ich für eine falsche Entwicklung, dass zu viel zu weit zentralisiert geregelt wird. Denn am Ende findet die Behandlung zwischen Arzt und Patient statt und nicht im Parlament oder im G-BA. Da werden Rahmenbedingungen gesetzt. Wenn man diese zu eng oder undifferenziert setzt, krankt die Selbstverwaltung daran. Meine Sorge für die Zukunft ist, dass die Selbstverwaltung damit ausgehöhlt wird.
Warum lief es in Sachen Digitalisierung nicht immer wie gewünscht?
Das Potenzial der Digitalisierung ist da. Unsere Kritik zielte stets darauf, wie sie umgesetzt wird. Wir wissen, was die Praxen in der Digitalisierung brauchen. Aber es gab viele politische Vorgaben – gerade unter Gesundheitsminister Jens Spahn. Da war Digitalisierung leider nur unausgereifte und ungeeignete Technik. Diese Technik wurde in die Praxen gedrückt. Das gab sehr viel Ärger. Teilweise wurden die Kosten nicht gedeckt. Die Technik war zwar meist abgedeckt. Aber die vielen Aufwände waren das nicht: Die Praxen mussten teilweise auf eigene Kosten Techniker beauftragen.
Zudem sind die Deutschen bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen technisch einen Sonderweg gegangen: Die Konnektoren, die wir in den Praxen haben, die gibt es nirgendwo auf der Welt. Ich kenne jedenfalls kein Land. Diese sind selbst nach unseren Standards entwickelt worden, werden nur hier gebraucht, werden nur hier produziert, sind teuer und fehleranfällig, weil es kein Massenprodukt ist. Solche Themen haben die Umsetzung der Digitalisierung schwergemacht. Aber wenn dann schon Millionen in die Konnektoren geflossen sind, kann man nicht einfach sagen: „Weg damit!“ Da es ein so komplexes Thema ist, ist es schwierig, dies in der Ärzte-Öffentlichkeit zu kommunizieren. Heute würde kein Ministerium mehr solche Konnektoren fordern, aber als vor 15, 20 Jahren der Gedanke hochkam, ein Netz zu bauen, war das ganz anders. Der Ansatz, ein riesiges Netz zu bauen, an dem alle Berechtigten teilnehmen dürfen, wird durch den „Zero Trust“-Ansatz abgelöst. Bis das in den Praxen umgesetzt ist, wird lange dauern.
Denn am Ende findet die Behandlung zwischen Arzt und Patient statt und nicht im Parlament oder im G-BA. Da werden Rahmenbedingungen gesetzt. Wenn man diese zu eng oder undifferenziert setzt, dann krankt daran die Selbstverwaltung. Meine Sorge für die Zukunft ist, dass die Selbstverwaltung damit ausgehöhlt wird.
Welche digitalen Baustellen sehen Sie für die Zukunft?
In der ersten Phase ging es um die Technik. Ungeeignete Technik wurde, wie gesagt, in die Praxen gedrängt. Dieses Thema dürfte in den nächsten zwei Jahren beendet sein. Ich hoffe jedenfalls, dass die Technik dann auch funktioniert. Danach ist die nächste Phase viel entscheidender: Was macht man mit den technischen Möglichkeiten? Zurzeit wird die Technik genutzt, um Formulare rumzuschicken. Das dürfte in zwei Jahren funktionieren. Dann kann man wirklich den Mehrwert der Digitalisierung heben. Der besteht für mich eben nicht darin, dass man Formulare oder einen Arztbrief leicht hin- und herschicken kann. Das ist auch wichtig. Aber es geht darum, dass man die Versorgungsprozesse anpackt. Da müssen wir unbedingt als KBV und als KV-System für die Versorgung dabei sein und sagen, in welche Richtung es gehen soll. Wenn gewisse Unterstützungsleistungen nicht da sind, dann können Sie gewisse Behandlungen gar nicht mehr durchführen.
Wir müssen aufpassen, dass Versorgungsprozesse den medizinischen Bedingungen entsprechen und nicht nur den digitalen Möglichkeiten. Das ist nach meiner Ansicht die Herausforderung für die Zukunft. Da mag die elektronische Patientenakte (ePA) eine Rolle spielen, aber viel entscheidender sind die Prozesse. Und ich gehe davon aus, dass wir in zwei, drei Jahren im G-BA keine Richtlinien und keine Entscheidungen mehr haben, bei denen nicht automatisch eine digitale Lösung zumindest angedacht ist. Genau das ist meine Erwartung, Hoffnung und Forderung: dass es keine Richtlinie mehr im G-BA geben wird, bei der nicht vorher durchdacht wurde, wenn Daten gefordert werden. Zum Beispiel: Wie können diese einfach von den Praxen oder von den Krankenhäusern geliefert werden? Es darf nicht so laufen, dass man einfach etwas macht und es den anderen Beteiligten vor die Tür kippt nach dem Motto: „Seht mal zu, wie ihr das digital umsetzen könnt!“ Das muss direkt von Anfang an mitgedacht werden. Auch wir in der KBV müssen bei Richtlinien immer direkt mitdenken: Wie ist die digitale Umsetzung? Sind das Prozesse, die auch digital zu machen sind?
Ich gehe davon aus, dass wir in zwei, drei Jahren im G-BA keine Richtlinien und keine Entscheidungen mehr haben, bei denen nicht automatisch eine digitale Lösung zumindest angedacht ist.
Welche Rolle sollte die gematik aus Ihrer Sicht zukünftig spielen?
Die gematik soll zur Agentur für Gesundheit werden. Ich bin mir nicht ganz sicher, was die Politik plant. Meine Erwartung wäre, dass die gematik die Verantwortliche für das Netz ist, solange es noch ein Netz gibt. Und zwar auch für den Betrieb. Sie muss die Sicherheit des Netzes garantieren – redundant 99,9 Prozent, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Das muss immer sein. Denn der „Point of no Return“ ist längst überschritten. Wenn eine Praxis nicht mehr am Digitalnetz ist, an der Telematikinfrastruktur (TI), kann sie kaum ihren Versorgungsauftrag erfüllen. Es werden noch Behandlungen stattfinden können, aber vieles geht dann nicht mehr. Beispielsweise Verordnungen. Die Netz- und Betriebsverantwortung gilt später auch für die TI 2.0.
Das Zweite ist die Entwicklung von technischen und Sicherheitsnormen in Abstimmung mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Dabei würde ich mir weiter einen starken Einfluss der Selbstverwaltung wünschen, weil es immer verschiedene Möglichkeiten der Umsetzung gibt. Da wäre es wichtig, dass die Beteiligten, vor allem die Leistungserbringer – seien es nun Ärzte, Zahnärzte, Apotheken, Krankenhäuser – sagen können: „Das passt bei uns oder das passt bei uns nicht.“ Es wird nicht das Ziel infrage gestellt, sondern die Art der Umsetzung. Diese darf nicht von der gematik am grünen Tisch gemacht werden, sondern erst in Rückkopplung – notfalls auch nach ausreichend praktischen Versuchen – umgesetzt werden. Die technische Umsetzung muss einheitlich für das gesamte Bundesgebiet und interoperabel sein. Jeder der Beteiligten im Gesundheitswesen muss die Produkte nutzen können.
Als KBV-Vorstand haben Sie mehrere Ministerwechsel im Gesundheitsressort der Bundesregierung mitgemacht: Wie haben Sie diese erlebt?
Die verschiedenen Minister haben unterschiedlich auf das reagiert, was in dieser Zeit passiert ist. Die Digitalisierung war ein kleines Thema, was immer bedeutender geworden ist. Insgesamt haben wir es in den sechs Jahren nicht geschafft, das Problem des Arztmangels bzw. des Arztzeitmangels adäquat zu lösen. Für uns steht das Problem der Weiterbildung im niedergelassenen Bereich noch an. Da gibt es keine Finanzierungsmöglichkeit. Das wird in der nächsten KBV-Legislaturperiode eine große Rolle spielen. Die Notdienstversorgung ist aus dem Ruder gelaufen – nicht, weil wir es nicht gekonnt haben. Und zudem gibt es das Problem der unzureichenden Finanzierung. Darauf hatten die Minister unterschiedliche Antworten: Herr Spahn ist da teilweise – auch durch die Corona-Pandemie – etwas schneller und großzügiger vorgegangen.
Jetzt wird das wieder eingesammelt, was die Impfvergütung und ähnliche Dinge betrifft. Aber es fehlt der ganz große Wurf. Was will man eigentlich? Will man eine Selbstverwaltung, die den Namen verdient? Dann muss man auch hinnehmen, dass diese Entscheidungen trifft, die die Regierung vielleicht so nicht getroffen hätte. Mein Eindruck ist, dass unter welchem Minister auch immer der Einfluss der Selbstverwaltung immer begrenzter geworden ist. Jedes Thema, das vielleicht mal nicht so gut gelaufen ist, wird hochgezogen. Dann wird ein Gesetz gemacht. Und die Selbstverwaltung wird dann immer mehr eingeengt. Man sollte der Selbstverwaltung wieder mehr Luft zum Atmen geben.
Mein Eindruck ist, dass unter welchem Minister auch immer der Einfluss der Selbstverwaltung immer begrenzter geworden ist.
Warum braucht es auch heute noch die ärztliche Selbstverwaltung?
Ich stelle mir die Frage umgekehrt. Wenn ich ein junger Arzt wäre, der sich niederlassen möchte, würde ich überlegen: „Soll ich in dieses System gehen? Wie ist die Selbstverwaltung?“ Ich glaube, das ist für viele Ärzte schwierig. Weil es die Selbstverwaltung schon so lange gibt und daraus eine gewisse Selbstverständlichkeit resultiert, können Ärzte vielleicht den Wert nicht immer so ganz leicht erkennen. Einige nehmen die KVen eher als so eine Art Arztverwaltungsbürokratie wahr. Aber ich weiß aus meiner langen Tätigkeit im KV-System, wie stark der Einfluss der Niedergelassenen auf die KV-Politik ist.
Nur ein kleines Beispiel: Als ich Vorstandsassistent bei der KVWL war, kam ein Schreiben an den damaligen KV-Vorsitzenden, dass die Verwaltung dies und jenes nicht richtig gemacht hätte. Dieses Schreiben wurde – ungeachtet dessen, ob die Punkte darin stimmten oder nicht – ernst genommen. Darum hatte ich mich damals sofort zu kümmern. Diesen direkten Zugriff habe ich andernorts nicht. Ich habe nicht das Gefühl, dass mein Anliegen so ernst genommen wird, wenn ich beispielsweise hier an die Berliner Stadtverwaltung oder das Bezirksamt schreibe. Das wird in der Selbstverwaltung gemacht. Das ist das eine. Das Zweite ist, dass die wirklichen Belange aus der Praxis berücksichtigt werden. In der KVWL hatten wir in meiner Zeit rund 600 ehrenamtlich Tätige in den verschiedenen Gremien wie Qualitätssicherungs-, Zulassungs- oder Prüfungsausschüssen.
Vorfahrt für die Selbstverwaltung! Sie muss wieder mehr Kompetenzen bekommen. Und mit Blick auf die Politik: Vertraut der Selbstverwaltung und versucht nicht, alles im Detail zu regeln!
Die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen in diesen Kommissionen wissen, wie eine Praxis geführt wird und welche Anforderungen zu stellen sind. Ich hätte meine Zweifel, wenn das ein akademischer Qualitätssicherer oder jemand vom TÜV machen würde. Das sind Dinge, die aus der Praxis heraus besser beurteilt werden können.
Selbstverwaltung ist gut, lebt aber davon, dass sich Ärztinnen und Ärzte außerhalb ihrer Praxiszeit abends noch engagieren. Das könnte in Zukunft ein Problem sein. Da müssen wir für die junge Generation attraktiv werden. Denn die Selbstverwaltung ist nur sinnvoll, wenn sie wirklich eine ärztliche Selbstverwaltung ist. Sie lebt davon, dass Kollegen mit Kollegen reden und nicht irgendein Bürokrat am Schreibtisch entscheidet, wie es gemacht werden soll. Ich halte das weiterhin für ein sehr wichtiges System, was es dieser Berufsgruppe erlaubt, ihre eigenen Angelegenheiten auch im Sinne der Versorgung der Bevölkerung zu großen Teilen selbst zu regeln. Daher lautet mein Plädoyer: Vorfahrt für die Selbstverwaltung! Sie muss wieder mehr Kompetenzen bekommen. Und mit Blick auf die Politik: Vertraut der Selbstverwaltung und versucht nicht, alles im Detail zu regeln!
Die Fragen stellten Hendrik Schmitz und Thomas Schmitt