10.09.2021
Prof. Dr. Lena Ansmann
„Herausforderungen wurden während der Pandemie wie unter einem Brennglas sichtbar“
Professor Lena Ansmann ist Gesundheitswissenschaftlerin und baut im Department für Versorgungsforschung die Abteilung Organisationsbezogene Versorgungsforschung auf. Die Klartext-Redaktion befragte sie zu Versorgungsstrukturen, zur sektorenübergreifenden Zusammenarbeit und der Corona-Bilanz der Bundesregierung.
Wie schätzen Sie die gesundheitspolitische Bilanz der Bundesregierung zum Ende dieser Legislaturperiode ein?
Als Versorgungsforscherin kann ich keine umfassende politische Bilanz ziehen. Allerdings bin ich mir darüber bewusst, dass dies eine außergewöhnliche, bisher nicht dagewesene Legislaturperiode ist, die nicht mit vorhergehenden vergleichbar ist. Ich bin froh, diese teils sehr schwierigen gesundheitspolitischen Entscheidungen in der Pandemie, die die Gesellschaft derzeit spalten, nicht treffen zu müssen. Vielmehr hat die Pandemie das deutsche und alle anderen Gesundheitssysteme einer umfassenden Prüfung unterzogen. Sie hat ganz grundsätzliche Probleme so sichtbar gemacht, dass sie nun kaum von der Gesundheitspolitik mehr ignoriert werden können. Es handelt sich hierbei oftmals um Probleme, auf die die Versorgungsforschung und auch andere Bereiche der Gesundheitsforschung schon lange hinweisen, aber mit denen wir zu wenig durchgedrungen sind.
Vielmehr hat die Pandemie das deutsche und alle anderen Gesundheitssysteme einer umfassenden Prüfung unterzogen. Sie hat ganz grundsätzlich Probleme so sichtbar gemacht, dass sie nun kaum von der Gesundheitspolitik mehr ignoriert werden können.
Welche Herausforderungen im Gesundheitswesen muss die künftige Bundesregierung schleunigst angehen?
Herausforderungen, die während der Pandemie wie unter einem Brennglas sichtbar wurden, betreffen aus meiner Sicht im Wesentlichen zwei Bereiche, die das Aufgabenspektrum der folgenden Legislaturperioden mitunter definieren sollten. Zum einen die Personalsituation in nahezu allen Bereichen der Gesundheitsversorgung und die damit verbundenen oftmals erschwerten Arbeitsbedingungen und deren schwerwiegenden Auswirkungen auf die Patientinnen- und Patientenversorgung. Zum anderen die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung, die starken Einfluss auf Gesundheitsentscheidungen und Gesundheitsverhalten hat, siehe das Thema Impfen. Das Gesundheitssystem und damit auch alle Einrichtungen der Gesundheitsversorgung müssen sich zur Aufgabe machen, angemessen auf Personen mit eingeschränkter Gesundheitskompetenz einzugehen und es ihnen möglichst einfach zu machen, gute Gesundheitsentscheidungen zu treffen und sich gut zurechtzufinden.
Was hat die Bundesregierung – mit Blick auf die Gesundheitspolitik – in der Corona-Pandemie gut, was eher schlecht gemacht?
In der ersten Phase der Pandemie stand Deutschland international als Vorbild da, später offenbarten sich viele grundsätzliche Probleme. Viele Aspekte des Pandemiemanagements müssen differenziert betrachtet werden. Zum Beispiel die Situation in Pflegeheimen: Das Isolieren der Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner war zu Beginn notwendig und sinnvoll, jedoch fehlten Konzepte und praktische Lösungen, wie eine gute Versorgung und ein gutes Leben für Heimbewohnerinnen und -bewohner trotz physischer Isolation ermöglicht werden kann. Es fehlte insgesamt an Konzepten, wie die Versorgung von Personen, die nicht an Covid-19 erkrankt sind, in den akuten Phasen der Pandemie aufrechterhalten werden kann. Viele Personen – nicht nur akut, sondern vor allem auch chronisch Erkrankte – wurden mit der Entscheidung allein gelassen, ob sie trotz der Pandemie Versorgung in Anspruch nehmen sollten, mit dem Risiko, sich womöglich im Krankenhaus oder in der Praxis zu infizieren. Hier fehlte es auch an Informationsangeboten, wie wir in einer Untersuchung herausfinden konnten.
Wie wichtig sind – nicht nur in Pandemie-Zeiten – die vorhandenen Versorgungsstrukturen hierzulande?
Versorgungsorganisationen wie Krankenhäuser, Pflegeheime und Praxen sind das Grundgerüst des Gesundheitswesens, aber Strukturen alleine machen keine gute Versorgung aus. Vielmehr sind sie eine Grundbedingung für den Zugang zu Gesundheitsversorgung. Das Throughput-Modell aus der Versorgungsforschung beispielsweise beschreibt eindrücklich, dass Prozesse und Kulturen mindestens genauso einflussreich sind.
Denken Sie an Versorgungspfade zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen, die oftmals defizitär gestaltet sind, das hängt oftmals an Prozessen. Oder denken Sie an mangelnde Fehlerkultur in Versorgungsorganisationen. Wir wissen aus der Versorgungsforschung aber auch, dass Strukturen mit Prozessen und Outcomes stark zusammenhängen und sich gegenseitig bedingen. Auch aus der Soziologie ist bekannt, dass Strukturen unser alltägliches Handeln prägen. Das genau zu durchdringen ist auch Aufgabe der Versorgungsforschung.
Welche Bedeutung hat die Selbstverwaltung als ein Element der medizinischen Versorgung in Deutschland?
Im Gegensatz zu anderen Ländern regelt bei uns nicht der Staat allein die medizinische Versorgung, sondern die Träger der Gesundheitsversorgung organisieren sich selbst nach dem Subsidiaritätsprinzip. Die an der Versorgung Beteiligten beziehungsweise deren Interessenvertreter handeln also kontinuierlich die Regeln aus, in einem festgesetzten gesetzlichen Rahmen. Als Vorteil kann man die stärkere Nähe zur Lebenswirklichkeit der Betroffenen sehen. Allerdings ist die Rolle der Betroffenen in der Selbstverwaltung tatsächlich recht klein. Obwohl überall das Prinzip der patientinnen- und patientenzentrierten Versorgung propagiert wird, dürfen Betroffene oder deren Interessenvertreter bei vielen Entscheidungen in der Selbstverwaltung kaum mitreden. Ich hoffe, dass sich das in Zukunft ändert.
Oft ist aus der Politik der Ruf nach einer besseren sektorenübergreifenden Zusammenarbeit zu hören. Wie könnte diese aussehen?
Aus meiner Sicht liegt das Problem der mangelnden sektorenübergreifenden Zusammenarbeit oftmals darin begründet, dass die einzelne an der Versorgung beteiligte Organisation, zum Beispiel das Krankenhaus, keine Verantwortung für den gesamten Versorgungsprozess besitzt. Sondern sie ist verantwortlich für eine spezifische Prozedur und es gibt wenig Anreiz für das Krankenhaus, den Versorgungsprozess nach der Entlassung weiter mitzugestalten. Diese Gesamtverantwortung für den Versorgungsverlauf von Patientinnen und Patienten kann nach dem Prinzip von Value-Based Care gesteigert werden, wenn der Erlös stärker an patientinnen- und patientenrelevante Outcomes geknüpft wird. Eine derartige grundsätzliche Veränderung braucht natürlich Mut, Anstrengung und Zeit, die über eine Legislaturperiode hinausgeht.
Die Fragen stellte Thomas Schmitt
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