09.09.2021

Prof. Dr. Roland Czada

„Die staatlichen Impfzentren waren teuer und überflüssig“

Professor Roland Czada lehrte bis 2019 am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück. Foto: privat

Professor Roland Czada beschäftigt sich als Politikwissenschaftler unter anderem mit Staatstheorie und Verwaltungsforschung. Im Klartext-Interview spricht er über die gesundheitspolitische Bilanz der Bundesregierung, die Herausforderungen im Gesundheitswesen und die Bedeutung der Selbstverwaltung.

Wie schätzen Sie die gesundheitspolitische Bilanz der Bundesregierung zum Ende dieser Legislaturperiode ein?

Im Unterschied zu früheren Legislaturperioden hat der gesundheitspolitische Kampfeslärm etwas nachgelassen. Der Ruf nach mehr Markt und Wettbewerb ist leiser geworden. Stattdessen standen qualitative Fragen im Vordergrund und derzeit natürlich die Gesetzgebung und Verordnungen zur Pandemiebekämpfung. Dahinter verblassen vorangegangene Maßnahmen. Für Aufregung hatte ja das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) gesorgt, das einer aufkommenden Unzufriedenheit über Wartezeiten im Gesundheitssystem entgegenwirken sollte. Nachhaltig werden sich nach meinem Eindruck das Digitale Versorgung-Gesetz (DVG) von 2020 und das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG) auf die Gesundheitsversorgung auswirken. Außerdem hat die Pandemie die Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) so verschärft, dass dringender Entscheidungsbedarf ansteht.

Welche Herausforderungen im Gesundheitswesen muss die künftige Bundesregierung schleunigst angehen?

Die Nachwirkungen und Lerneffekte der Corona-Pandemie dürften noch lange anhalten. Die Bundesregierung wird sie zum Anlass organisatorischer Reformen nutzen. Dazu gehören etwa die Verstärkung und Digitalisierung der staatlichen Gesundheitsverwaltung, die Sektorkoppelung und die Europäisierung der Gesundheitspolitik.

Der ambulante Sektor konnte den Großteil der Covid-19-Fälle behandeln und so Krankenhäuser vor Überlastung schützen. Schon zuvor hat der ambulante Sektor als Rückgrat des Gesundheitswesens an Bedeutung gewinnen können. Dieser Trend ist durch die Pandemie verstärkt worden.

Die GKV-Finanzen sind in der Pandemie völlig aus dem Lot geraten. Ob die Beitragssätze erhöht werden, deren Bemessungsgrundlage verbreitert wird, ein Finanzausgleich mit den Privatversicherern bevorsteht, diese in die GKV integriert werden – Stichwort Bürgerversicherung – oder der steuerfinanzierte Staatsanteil erhöht wird, hängt vom Ausgang der Bundestagswahl am 26. September ab. Der Handlungsbedarf ist dringend, denn die Schere zwischen Einnahmen und Leistungsausgaben je GKV-Mitglied hat sich schon sehr weit geöffnet.

Was hat die Bundesregierung – mit Blick auf die Gesundheitspolitik – in der Corona-Pandemie gut, was eher schlecht gemacht?

Vor einer Kabinettssitzung im Berliner Kanzleramt: Olaf Scholz (SPD, v. l.), Finanzminister und Vizekanzler, Kanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn (beide CDU). Foto: IMAGO/IPO

Im Ländervergleich sieht die deutsche Corona-Bilanz gut aus. Die ambulanten und stationären Versorgungseinrichtungen leisteten bei der Behandlung von Covid-19-Erkrankten gute Arbeit, und auch der allgemein gute Gesundheitsstatus der Bevölkerung hat zu deren Schutz beigetragen. Andererseits hinterlässt das politische Pandemiemanagement einen faden Eindruck. Die Transparenz und Kommunikation von Maßnahmen ließen zu wünschen übrig. Ich führe das nicht nur auf institutionelle Mängel etwa der föderalen Struktur zurück. Vielmehr haben sich der in Vorwahlzeiten intensivierte politische Wettbewerb und politische Profilierungsversuche negativ ausgewirkt. Außerdem fand ich den Pandemiediskurs und die Politikberatung eingeengt. Verwirrung ist im Zusammenhang mit Prognosemodellen und Statistiken zur Auslastung von Intensivstationen sowie zuletzt der Impfstatistik entstanden. Woran lag’s? Wenn man von politischen Fehlern absieht, bleiben eine desolate technische Infrastruktur, Mängel der Datenerhebung und -verarbeitung sowie Verwaltungsprobleme als Erklärung übrig.

 

Welche gesundheitspolitischen Lehren lassen sich aus der Pandemie ziehen?

Der ambulante Sektor konnte den Großteil der Covid-19-Fälle behandeln und so Krankenhäuser vor Überlastung schützen. Schon zuvor hat der ambulante Sektor als Rückgrat des Gesundheitswesens an Bedeutung gewinnen können. Dieser Trend ist durch die Pandemie verstärkt worden.

Impfstoff für den Kampf gegen Corona: Laut Professor Czada hätte die Ärzteschaft mit ihrem Rat und Wissen mehr in den Pandemiediskurs einbezogen werden müssen. Foto: IMAGO/MiS

Wie dringlich die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist, insbesondere auch der öffentlichen Gesundheitsverwaltung, dürfte kaum weiter umstritten sein. Mehr Transparenz der wissenschaftlichen Politikberatung hätte nach meiner Einschätzung zu größerer Akzeptanz geführt. Das betrifft auch die Beteiligung der Ärzteschaft, deren Rat und Wissen im Pandemiediskurs weitgehend verborgen blieben. Bei dem Vertrauensvorschuss, den die Bevölkerung ihren Ärztinnen und Ärzten entgegenbringt, hätten sie in der Impfkampagne von Anfang an eine größere Rolle spielen können, wenn man sie politisch gehört und beteiligt hätte. Die ortsfesten staatlichen Impfzentren waren teuer und, wie ich meine, überflüssig.

Wie wichtig sind – nicht nur in Pandemie-Zeiten – die vorhandenen Versorgungsstrukturen hierzulande?

Der Ländervergleich zeigt die Vorzüge des deutschen Hausarztmodells. Die Versorgungsinfrastruktur, der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in der Fläche und deren Qualität sind hoch entwickelt. Allerdings gibt es auch Reibungsverluste, Effizienzmängel und Organisationsprobleme. Die Öffentlichkeit erwartet inzwischen einen Sprung ins digitale Zeitalter. Mir fällt immer wieder die unterschiedliche Ausstattung der Praxen auf. Das reicht vom internetbasierten Terminservice in Medizinischen Versorgungszentren bis zu Praxen ohne E-Mail und mit ständig überlasteter Telefonanlage.

Welche Bedeutung hat die Selbstverwaltung als ein Element der medizinischen Versorgung in Deutschland?

Professor Czada: „Von der Selbstverwaltung erwarte ich, dass die organisierte Ärzteschaft in Gesundheitsfragen ein gewichtiges Wort mitreden kann.“ Foto: privat

Von der Selbstverwaltung erwarte ich, dass die organisierte Ärzteschaft in Gesundheitsfragen ein gewichtiges Wort mitreden kann und dass sich die Politik mit medizinischen Urteilen zurückhält. Die Pandemie hat nun aber gezeigt, wie stark die Selbstverwaltung im Schatten des Staates steht. Ich fürchte, ihre Bedeutung könnte weiter zurückgehen. Der politische Druck wächst und gesundheitspolitische Reformpläne lassen die Zukunft der Selbstverwaltung ungewiss. Zum Beispiel wäre die Integration der Privatversicherten in die GKV eine Systemänderung. Sie würde die paritätische, von Versicherten, Arbeitgebern und Ärzten geprägte Selbstverwaltung im Kern treffen. Leider wird es in einer aufgefächerten Verbändelandschaft mit vielen medizinischen Fachverbänden immer schwieriger mit einer Stimme zu sprechen, um sich gegen politische Bevormundung zur Wehr zu setzen. Dabei war die Selbstverwaltung ursprünglich als Schutz gegen die Politisierung und Kommerzialisierung der medizinischen Versorgung gedacht. Sie nützt vor allem den Kranken und Versicherten.

Oft ist aus der Politik der Ruf nach einer besseren sektorenübergreifenden Zusammenarbeit zu hören. Wie könnte diese aussehen?

Heute lassen sich Krankheiten ambulant behandeln, für die man früher tagelang ins Krankenhaus musste. Andererseits verfügen Krankenhäuser über Ressourcen, die auch für ambulante Diagnosen und Therapien taugen. Eine engere Kopplung von ambulanter und stationärer Versorgung erscheint vor diesem Hintergrund unausweichlich. Sie liegt im Interesse des Behandlungserfolges und einer effektiven Nutzung vorhandener Ressourcen. Zudem kann sie teure Überkapazitäten vermeiden.

Besuch beim Kinderarzt: „Heute lassen sich Krankheiten ambulant behandeln, für die man früher tagelang ins Krankenhaus musste.“ Foto: iStock/Geber86

Die Digitalisierung kann helfen, medizinische Informations- und Versorgungsnetzwerke aufzubauen und damit Sektoren- und Fächergrenzen abzubauen. Unter günstigen Rahmenbedingungen und bei kooperativer Einstellung der Beteiligten bieten digitale Versorgungsnetzwerke auch Chancen, die Berichts- und Abrechnungsbürokratie im Bereich medizinischer Dienstleistungen auf ein erträgliches Maß zurückzuführen. Wenn die Selbstverwaltungsverbände hier nicht selbst aktiv werden, dürfen sie sich nicht wundern, wenn sie unter politischen Dauerbeschuss geraten. Selbstverwaltung setzt die Fähigkeit zur Selbstregelung auftretender Probleme und Konflikte voraus.

Die Fragen stellte Thomas Schmitt

Das könnte Sie auch interessieren