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25.11.2024

Sjoma Liederwald

„Die Nationalsozialisten waren unter den Ärzten sehr populär“

Sjoma Liederwald (rechts) stieß bei der Auswertung des KVD-Archivs auf unterschiedlichste Funde – mit oft erschreckendem Inhalt.
Foto: KBV / Ben Reichardt

Der Historiker Sjoma Liederwald von der Technischen Universität (TU) Berlin hat für das Projekt „KBV übernimmt Verantwortung“ hunderte Aktenstücke aus der Zeit des Nationalsozialismus ausgewertet. Im Klartext-Interview spricht er über die Rolle der Ärzteschaft im Dritten Reich, die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD) und die in Kürze startende Wanderausstellung „Systemerkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus“.

Herr Liederwald, Sie und Ihr Kollege Dr. Ulrich Prehn vom Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) an der TU Berlin haben sich nun einige Jahre mit der Geschichte der KVD und dem Gesundheitssystem im Nationalsozialismus befasst. Welche Quellen haben Sie im Kölner Archiv der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) vorgefunden und ausgewertet?

Einige Akten im Archiv sind deutlich älter, zum Beispiel vom 1900 gegründeten Hartmannbund oder vom Ärztevereinsbund, beides waren quasi Vorgängerorganisationen der KVD. Das Archiv enthält aber auch Akten aus der Nachkriegszeit. Insgesamt haben wir in einem ersten Teil des Projekts rund 900 Aktenstücke in einer von uns erstellten Datenbank verzeichnet.

Es steht leider noch nicht fest, wo genau die Akten und die Datenbank zukünftig aufbewahrt werden können, damit später andere Wissenschaftler oder Forschungseinrichtungen diese alten Bestände erschließen können. Der zweite Teil des Projekts bestand dann darin, aus den gewonnenen Erkenntnissen eine Wanderausstellung zu erarbeiten.

Das heißt auch, die Archivbestände wurden nun erstmals komplett erfasst?

Genau, es gab vorher bereits Versuche von Archivaren der KBV, diese wurden aber nie abgeschlossen.

Seit 2019 arbeitete Liederwald am Projekt „KBV übernimmt Verantwortung“ mit. Foto: KBV / Ben Reichardt

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass die Aufarbeitung von Geschichte sich manchmal über so viele Jahrzehnte hinzieht?

In Bezug auf die KBV habe ich keine Einblicke, aber generell sind die institutionellen Aufarbeitungsprojekte ein Trend der letzten 25 Jahre – und vor allem sind sie eine Generationenfrage. In der deutschen Justiz oder auch beim Bundesnachrichtendienst ist es so gewesen, dass die erste Nachkriegsgeneration innerhalb dieser Institutionen häufig aus alten NS-Funktionären besteht, die im Nationalsozialismus Karriere gemacht haben. Das ist bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin ähnlich. Da gab es zum Beispiel den in der Ausstellung erwähnten Clemens Bewer, der langjährige Hausjustiziar, der auch seine Karriere in der KVD begonnen hat und nach dem Krieg lange Jahre für die Berliner KV tätig war. Die nächste Generation ist in ihrer Karriere und Förderung noch völlig abhängig von diesen ehemaligen NS-Funktionären und hat aus persönlicher Verbundenheit zu diesen „alten Hasen“ auch kein Interesse an der Aufarbeitung. Die übernächste Generation hat diese Abhängigkeit nicht mehr und ist bereit, die Aufarbeitung in Angriff zu nehmen. Meine vorsichtige Einschätzung ist, dass es bei der KBV ähnlich war.

1938 wurden jüdische Ärzte degradiert, indem man ihnen die vollständige Kassenzulassung entzog. Anschließend wurden einige als „Krankenbehandler“ wieder zugelassen, die ausschließlich jüdische Patientinnen und Patienten behandeln durften.

Gab es Überraschungen bei der Erschließung des Archivs?

Ja, ein Highlight ist ein Ordner mit der Aufschrift „Juden“, was uns natürlich neugierig gemacht hat. Das ist ein Sammelsurium von allem möglichem was mit der nationalsozialistischen Rassenideologie zu tun hat. Darin sind Dokumente aus der Zeit von 1934 bis 1943 enthalten, in denen es um Fragen geht wie: „Wer ist arisch und wer nicht?“ Es kommen die Nürnberger Rassegesetze vor, es gibt interne Schriftstücke, aber auch Ausschnitte aus Gesetzesblättern, dem Deutschen Ärzteblatt. Es geht um Diskussionen, wie mit jüdischen Ärzten umzugehen ist. 1938 wurden jüdische Ärzte degradiert, indem man ihnen die vollständige Kassenzulassung entzog. Anschließend wurden einige als „Krankenbehandler“ wieder zugelassen, die ausschließlich jüdische Patientinnen und Patienten behandeln durften. Das ist alles in diesem Ordner enthalten.

Ein Ordner mit der Aufschrift „Juden“ enthielt vor allem Dokumente zu jüdischen Ärztinnen und Ärzten.
Foto: KBV / Ben Reichardt

Und diese Dokumente waren vorher nicht bekannt?

Teilweise schon, wenn es zum Beispiel um Auszüge aus dem Deutschen Ärzteblatt geht, aber wir haben auch ein Schriftstück vom 22. Dezember 1938 entdeckt, in dem es darum geht, wie sich durch die große Zahl verhafteter Juden – darunter auch viele „Krankenbehandler“ – ein Versorgungsengpass ergeben hat und viele jüdische Patienten bei deutschen Ärzten auftauchen, was nicht erwünscht ist.

Die Wanderausstellung „Systemerkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus“ startet am 29. November 2024 bei der KBV in Berlin (Herbert-Lewin-Platz 2, 10623 Berlin). Sie ist bis zum 28. Januar 2025 kostenlos zu den Bürozeiten der KBV (9 – 20 Uhr) besuchbar. Weitere Informationen finden Sie auf der Website der KBV.

Da unter der jüdischen Bevölkerung aber Infektionen und Seuchen grassieren, will man unbedingt für die Entlassung der „Krankenbehandler“ aus den Konzentrationslagern sorgen, um die Krankenversorgung sicherzustellen und ein Übergreifen der Krankheiten auf die deutsche Bevölkerung zu verhindern. Am 13. Dezember erließ die Gestapo dann die entsprechende Verordnung zur Freilassung.

Mit der Wanderausstellung präsentieren ZfA und KBV die Ergebnisse des Forschungsprojekts erstmals der breiten Öffentlichkeit. Grafik: KBV

Was waren die Umstände, die zur Gründung der KVD geführt haben?

Seit den 1870er-Jahren gibt es Bemühungen der niedergelassenen Ärzte, sich standesrechtlich zu organisieren. Auf Landesebene gibt es Ärztevereine, Ärzteverbände mit zunächst freiwilligem Charakter. Am Anfang ist das Ziel, dass man ein einheitliches Berufsrecht entwickeln will, quasi eine Art Ärztekammer mit eigenem Zulassungswesen. 1883 werden die Krankenversicherungen eingeführt und die Ärzte sind zunächst vollkommen abhängig von diesen, einige sind im Grunde Arbeitnehmer der Versicherungen. Dagegen gibt es früh Widerstand. Das hat auch was mit dem bildungsbürgerlichen Hintergrund der Ärzte zu tun, da wird auch auf die Juristen geschielt, die schon früh ihre Rechtsanwaltskammern haben. Ab 1931 gibt es Kassenärztliche Vereinigungen, die dann alle Kassenärzte auf Landesebene geschlossen gegenüber den Krankenkassen vertreten, aber eben nicht auf Reichsebene.

Welche Rolle spielen dann später die Nationalsozialisten?

Die Nationalsozialisten sind unter den Ärzten sehr früh sehr populär. Das ist ähnlich wie bei den Juristen. Der Nationalsozialismus ist eine Bewegung des Bürgertums, des Bildungsbürgertums, des Kleinbürgertums, der Angestellten, der Freiberufler und der Selbstständigen. Die Nationalsozialisten setzen sich früh und radikal für die Errichtung der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands ein. Die KVD wird schon im Mai 1933 gegründet. 1935 wird die Reichsärztekammer gegründet, damit versichert sich der Nationalsozialismus der Loyalität des Ärztestandes. Viele junge Ärzte hoffen im Rahmen von Wiederaufrüstung auf neue Arztstellen. Bei der Ausgrenzung jüdischer Ärzte aus der kassenärztlichen Tätigkeit geht es auch viel darum, dass es in den 20er-Jahren eine Ärzteschwemme gab. Viele jüngere Ärzte sind ohne Karriereaussichten und hoffen, dass sie durch die Vertreibungen einen der kassenärztlichen Sitze bekommen. Das ist eine Mischung aus bürgerlichem Standesdünkel, knallharten wirtschaftlichen Interessen und einer verschleppten Gesundheitspolitik aus der Weimarer Zeit. Der Nationalsozialismus ist gut darin, diese Konflikte für sich auszuschlachten.

Bei der Ausgrenzung jüdischer Ärzte aus der kassenärztlichen Tätigkeit geht es auch viel darum, dass es in den 20er-Jahren eine Ärzteschwemme gab. Viele jüngere Ärzte sind ohne Karriereaussichten und hoffen, dass sie durch die Vertreibungen einen der kassenärztlichen Sitze bekommen.

Die KVD selbst spielt keine große Rolle in der Ausstellung. Woran liegt das?

Auf unserer Seite gab es kein Interesse, eine dicke Studie zu schreiben und aufseiten der KBV auch nicht. Es sollte etwas sein, was die Öffentlichkeit anspricht. Eine Wanderausstellung war da eine naheliegende Entscheidung. In dem Fall war unsere Meinung, wenn wir eine Ausstellung machen, dann brauchen wir viel mehr Kontext drumherum. Am Ende geht es darum, ein Beziehungsdreieck zu erläutern. Ein Dreieck zwischen Patient, Arzt und ärztlicher Standesorganisation – und wie sich diese Beziehungen im Nationalsozialismus verändert haben.

Die Fragen stellte Ben Reichardt