28.11.2023

Praxisgründerin zwischen Frust und Freiheit

Warum müssen die Prozesse so komplex sein?

Das Titelfoto zeigt Dr. Verana Gall, Fachärztin für Innere und Allgemeinmedizin, die 2020 ihre eigene Praxis in Mommenheim, Rheinland-Pfalz, gründete.
Dr. Verena Gall gründete mitten in der Corona-Pandemie ihre eigene Praxis. Foto: KV Rheinland-Pfalz

Dr. Verena Gall ist Fachärztin für Innere und Allgemeinmedizin. 2020 gründete sie ihre eigene Praxis in Mommenheim, Rheinland-Pfalz. Der Klartext blickt zurück auf die Gründung ihrer Hausarztpraxis, begleitet sie als Ausbilderin des ärztlichen Nachwuchses und spricht mit ihr über das Misstrauen der Politik.

Montagmorgen, die Praxis von Dr. Verena Gall füllt sich. „Gude Morsche!“, sagt eine 70-jährige Patientin in rheinhessischer Mundart freundlich zu Dana Faber, die hinter der Anmeldung am Eingang sitzt. Die Seniorin steuert geradewegs an ihr vorbei auf die digitale Patientenannahme zu, wo sie sich für die Behandlung eincheckt.

Dr. Gall begrüßt die Patientin freundlich, bevor sie ins Behandlungszimmer tritt, wo bereits ihr nächster Patient wartet. Ein ganz normaler Tag in der hausärztlichen Praxis am Osterberg in Mommenheim beginnt. Drei Fachärztinnen und -ärzte, eine Ärztin in Weiterbildung und vier Medizinische Fachangestellte (MFA) stemmen hier gemeinsam die medizinische Versorgung in der Region.

Praxis und Familie

Dr. Verena Gall fällte ihre wichtigste Entscheidung noch im Wochenbett: „Ich lass mich nieder!“ 2018 brachte die Ärztin Zwillinge zur Welt. Damit war ihre Familienplanung abgeschlossen, mit ihrem Mann sprach sie über die gemeinsame Zukunft der jungen Familie. „Wir wollten an einem Ort leben und arbeiten. In Mommenheim sind wir sehr verwurzelt, mein Mann stammt gebürtig von dort. Deswegen wollte ich hier meine Praxis gründen“, erzählt die Allgemeinmedizinerin. Mommenheim ist ein Dorf mit etwa 3.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Nach Mainz ist es nicht weit, doch die medizinische Versorgung vor Ort war damals alles andere als optimal. Freundinnen und Freunde sowie Bekannte schlugen der Ärztin immer wieder vor, sich in der Gemeinde niederzulassen.

Schon ihre Mutter war selbstständige Apothekerin, weshalb die Idee, sich mit einer eigenen Praxis niederzulassen, für Gall nahelag. Im Sommer 2020 war der Zeitpunkt gekommen: „Ich bin ein Mensch mit vielen Ideen, die ich auch gerne umsetzen möchte“, sagt die 41-jährige Ärztin. Von der Praxis versprach sie sich Raum für Selbstverwirklichung: flexiblere Arbeitszeiten, keine Vorgesetzten und viel Freiheit für eigene Visionen.

Dr. Verena Gall bespricht mit einer MFA die Termine des Tages. Foto: privat

Niederlassung mit Hindernissen

Doch der Schritt in die Selbstständigkeit war schwerer als gedacht: „Schon 2018 hatten wir fast alles organisiert. Wir hatten ein interessantes Grundstück gefunden und auch die Finanzierung war geklärt. Aber wir hatten keinen Kassensitz.“ Eine Änderung in der Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung Rheinland-Pfalz brachte die Wende, plötzlich gab es sieben neue Kassensitze in der Region.

Zwei Jahre waren inzwischen vergangen und jetzt stand kein geeignetes Grundstück mit Immobilie mehr zur Verfügung. „Das war eine herausfordernde Zeit“, erinnert sich Gall. Typisch für das Miteinander in ländlichen Regionen bekam Sie auf einem Dorffest mittels „Buschfunk“ einen Hinweis auf eine geeignete Immobilie. „Kassensitze und parallel eine Immobilie für die Praxis finden – das ist die Krux“, sagt sie. „Da müssen ganz viele Herausforderungen gemeistert werden, zum Beispiel einen genehmigten Bauantrag innerhalb der Dreimonatsfrist nach Sitzerteilung durch den Zulassungsausschuss zu erhalten. Das sind Fristen, die eigentlich gar nicht haltbar sind“, meint Gall.

Azubis und MFA

Besser lief es bei der Suche nach neuen Praxismitarbeitenden. „Ich habe Glück gehabt. Meine Stammmannschaft habe ich durch Mundpropaganda und mein Netzwerk gewinnen können. Das, was ich anschließend bei der Mitarbeitersuche an Bewerbungen bekommen habe, war überschaubar, doch ich bin froh, so fähige und engagierte Medizinische Fachangestellte gefunden zu haben!“ Die Suche nach Auszubildenden gestaltet sich dagegen schwieriger: „Meine erste Auszubildende hat dieses Jahr erfolgreich ihre Ausbildung abgeschlossen. Für das nächste Ausbildungsjahr hat sich bisher niemand beworben. Wir suchen vor allem über Social-Media-Anzeigen nach Auszubildenden und nehmen regelmäßig Schülerpraktikanten auf, um auf diese Weise vielleicht schon zukünftige Azubis kennenzulernen. Ich plane inzwischen sogar, einen kleinen Film zu drehen, um damit an den weiterführenden Schulen der Umgebung für den MFA-Beruf zu begeistern. Wir brauchen motivierte und gut grundausgebildete Mitarbeiter mit einer hohen Affinität zu digitalen Prozessen“, erklärt Gall.

Die Arbeitsbedingungen von Fachkräften in den Praxen hätten sich in den vergangenen Jahren verschlechtert: „Einige Patientinnen und Patienten sind im Umgang wirklich schwierig und kommen mit einem unangenehmen Anspruchs- und Servicedenken zu uns. Außerdem erleben wir eine Verdichtung der Arbeit mit immer mehr und repetitiven Patientenkontakten auf unterschiedlichen Kommunikationswegen in immer kürzerer Zeit. Gleichzeitig werden die Anforderungen auch im Rahmen der Digitalisierung immer komplexer.“ Unter solchen Bedingungen verwundere es nicht, dass sich viele MFA gegen die Arbeit in der Praxis und für das Krankenhaus entschieden.

In ihrer Praxis setzt sie sich auch noch auf anderem Weg für die Zukunft ein: Sie bildet Ärztenachwuchs aus. Regelmäßig leitet sie Blockpraktikantinnen und -praktikanten oder Famulanten an. Hier hat sie die Möglichkeit, Studierende eins zu eins zu betreuen, was ihr viel Spaß macht. Während der Pandemiejahre hätten die praktischen Fähigkeiten und das fachliche Know-how der Nachwuchsmedizinerinnen und -mediziner merklich abgenommen. „Es ist erschreckend, was vor allem an handwerklichen Skills und Basiswissen einfach fehlt“, stellt Gall fest. Ein Einblick in eine hausärztliche Praxis sei für Medizinstudierende empfehlenswert. „In einer Woche beim Hausarzt erhält man einen Querschnitt durch das gesamte Studium“, schmunzelt sie.

Künftige Praxisinhaberinnen und -inhaber brauchen neben hoher Eigenmotivation und Unternehmergeist aber auch Rückhalt durch das Netzwerk aus Familie, Freundinnen und Freunden. Gerade mit Kindern – Gall ist dreifache Mutter – geht es nicht ohne Unterstützung. „Man muss sich Hilfe von außen holen. Ich habe zum Beispiel jemanden, der mich im Haushalt unterstützt. Man kann nicht alles alleine machen“, erklärt sie.

Kein Nine-to-five-Job

Die Tätigkeit in der Hausarztpraxis nimmt viel Zeit in Anspruch. Gall arbeitet oft bis in den Abend hinein und auch an Wochenenden hat sie nicht immer frei. Doch ihre Zeit kann sie nicht in vollem Umfang ihren Patientinnen und Patienten zugutekommen lassen. „Abrechnungen, Anträge und Rückfragen der Krankenkassen kosten viel Zeit“, klagt die Ärztin.

Im Praxisalltag kostet die Bürokratie Dr. Gall sehr viel Zeit. Foto: privat

„Warum müssen diese Prozesse so komplex sein? Man fürchtet ständig, etwas falsch zu machen und dann einen Regress am Hals zu haben.“ Das Beantragen von Reha-Maßnahmen oder das Erstellen von Transportscheinen ließe sich ihrer Ansicht nach mit viel weniger Bürokratie regeln. Verena Gall sieht die vielen bürokratischen Schikanen als Resultat einer Misstrauenskultur im deutschen Gesundheitswesen: „Viele Formalien existieren nur, weil man mir nicht glaubt, dass ich meine Arbeit richtig mache.“

Die aktuellen politischen Entwicklungen frustrieren die Ärztin immer wieder. „Unser Gesundheitswesen ist auf diesem Niveau langfristig nicht mehr finanzierbar. Ich bin überzeugt, dass ich in meinem Leben noch einen Systemwechsel erleben werde.“ Ein weiteres Problem stellt für sie dar, dass viele Medizinerinnen und Mediziner die Motivation und die finanziellen Mittel für tiefgreifende Veränderungen in die Praxisorganisation fehlten. „Ich wünsche mir grundsätzlich mehr Agilität und Bereitschaft zur Veränderung. Aber auch sanktionierbare Verpflichtungen seitens der Industrie, funktionale und stabil laufende Systeme bereitzustellen, die diese Veränderungen auch userfreundlich ermöglichen und nicht mit noch einem und noch einem Update teuer erkauft werden müssen“, sagt sie. „Sanktionen nur auf Seiten der Ärzteschaft sind nicht tragbar.“

Dennoch die richtige Entscheidung

Die Uhr in der Praxis am Osterberg zeigt 18 Uhr. Der letzte Patient ist versorgt. Verena Gall verabschiedet ihren Arztkollegen, kocht sich noch einen Tee und setzt sich an ihren Schreibtisch. Der Betrieb einer eigenen Praxis ist kein Nine-to-five-Job. Die junge Ärztin muss noch Rechnungen überweisen und die Coronaimpfungen des Tages ins Portal eingeben. Trotz aller Schwierigkeiten und der hohen Arbeitsbelastung ist sich Gall sicher, dass sie noch einmal den Schritt in die Niederlassung wagen würde: „Es ist mehr als ein ,Job‘. Es wird zum Lebensinhalt. Man entwickelt sich persönlich weiter, setzt eigene Vorstellungen um. Ich kann es mir inzwischen nicht mehr vorstellen, zurück in die Anstellung zu gehen.“

Katharina Lenz und Lukas Brockfeld

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