24.06.2024

Akut- und Notfallversorgung

Patientensteuerung lautet das Zauberwort

Beim Thema Hotline-first-Strategie sind sich die Experten einig. Foto: KBV/Celina Ritter
Die Akut- und Notfallversorgung steckt in der Krise: Viele Notaufnahmen sind überlaufen, die Wartezeiten lang und personelle sowie finanzielle Ressourcen knapp. Fest steht, dass das jetzige System an seine Grenzen gelangt. Was braucht es, um die Notfallversorgung in Deutschland zu reformieren und was können wir von anderen Ländern lernen? Dazu haben sich Experten bei einer Veranstaltung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) ausgetauscht.
Menschen in medizinischen Notsituationen brauchen schnelle und zuverlässige Hilfe. Eine funktionierende Akut- und Notfallversorgung ist daher ein wesentlicher Bestandteil der Gesundheitsversorgung. Doch die Zahl der Menschen, die den ärztlichen Bereitschaftsdienst oder die Notaufnahmen der Krankenhäuser aufsuchen, obwohl sie keine dringende Behandlung benötigen, nimmt stetig zu. Eine Verschärfung der Situation ist nicht nur in Deutschland zu beobachten. „Unser Ziel sollte eigentlich sein, die klinischen Notaufnahmen nicht mit Patienten zu belegen, die dort sitzen, weil sie sich beim Kicken den Fuß verstaucht oder ein Rezept vergessen haben“, erklärte der stellvertretende KBV-Vorstandsvorsitzende Dr. Stephan Hofmeister. „Dafür haben die Kliniken überhaupt keine Zeit und keine Kapazitäten.“
 
„Mit der 116117 haben wir in Deutschland ein umfassendes Angebot, das eine Hotline-first-Strategie ermöglicht“, sagte KBV-Vize Hofmeister. Foto: KBV/Celina Ritter

Von anderen Ländern lernen?

Die KBV hat eine Expertise in Auftrag gegeben, um lösungsorientiert zu untersuchen, welche Elemente der Organisation von „out of hours care“, also die medizinische Versorgung in nicht lebensbedrohlichen Fällen außerhalb der Sprechzeiten, aus den Niederlanden, Dänemark und England für den Versorgungskontext auch in Deutschland geeignet scheinen. Ziel war, die Übertragbarkeit und Praktikabilität einzuschätzen und daraus Handlungsempfehlungen abzuleiten. Eine Kurzfassung des Gutachtens ist bereits einsehbar, die Langversion wird im Juli veröffentlicht.
 
Die größten Probleme in der Notfallversorgung lägen hierzulande in der „ineffizienten Patientensteuerung in die angemessene Versorgungsebene“ und die „dafür notwendige Vernetzung und Abstimmung der beteiligten Akteure“, schreiben die Forscherinnen und Forscher des Universitätsklinikums in Eppendorf (UKE) und des Instituts für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen (aQua) in ihrem Gutachten. „Das System ist bedürfnisorientiert, nicht bedarfsorientiert. Darüber muss man dringend diskutieren“, forderte Prof. Dr. Joachim Szecsenyi vom aQua-Institut.

 

„Die Notfallreform ist ein dickes Brett“

Andere Länder haben ihre Akut- und Notfallversorgung bereits umfassend reformiert. Deutschland steht zumindest kurz davor, sagt jedenfalls Michael Weller, Abteilungsleiter im Bundesgesundheitsministerium (BMG). Die Reform habe „eine sehr, sehr gute, realistische Chance, 2025 im Bundesgesetzblatt zu stehen.“ Auf den dringenden Handlungsbedarf in der Notfallversorgung antwortete das BMG jüngst mit einem Referentenentwurf für ein Gesetz zur Reform der Notfallversorgung (NotfallGesetz). Der Entwurf sieht vor, für alle Hilfesuchenden eine „bundesweit einheitliche und gleichwertige Notfallversorgung“ sicherzustellen.
 

Die Vertragsärzteschaft kritisiert in Bezug auf den Referentenentwurf vor allem die zusätzliche Belastung der Niedergelassenen. Die knappen ärztlichen Ressourcen, die eine effektive Patientensteuerung dringend erfordern, werden außer Acht gelassen, warnt Hofmeister. „Der derzeit vorliegende Referentenentwurf für ein Notfallgesetz geht in Teilen allerdings den entgegengesetzten Weg. Statt einer klar vorgegebenen Patient Journey, öffnet er die Türen von Akut- und Notfallstrukturen noch weiter und will sie rund um die Uhr für jedermann verfügbar machen, bis hin zu einem 24/7 verfügbaren Hausbesuchsdienst.“

 

„Das System ist bedürfnisorientiert, nicht bedarfsorientiert. Darüber muss man dringend diskutieren“, forderte Prof. Dr. Joachim Szecsenyi vom aQua-Institut. Foto: KBV/Celina Ritter

Instrumente sind schon da

„Es muss ein einheitliches und flächendeckendes Ersteinschätzungsverfahren außerhalb der Sprechzeiten geben“, betonte Prof. Dr. Martin Scherer vom UKE. Auf dieser Grundlage werden die Patientinnen und Patienten einer angemessenen Versorgungsebene zugewiesen. Von dort könne man dann auch auf die Ergebnisse der Ersteinschätzung zugreifen, sodass eine Doppelerhebung entfalle. Das Gutachten betont zudem die Relevanz einer digitalen Notfallakte über den kompletten Behandlungspfad, in der die Ersteinschätzungsergebnisse für alle beteiligten Versorger verfügbar gemacht werden. Dieses Verfahren sei in den untersuchten Ländern bereits Standard. Mit der 116117 sind laut Scherer auch in Deutschland „sehr gute Anfänge“ vorhanden.
 
Um mit diesem Instrument die Patientinnen und Patienten effizient und bedarfsgerecht steuern zu können, müsse die 116117 dringend ausgeweitet und bekannter werden, forderte Hofmeister. Inhaltlich-fachlich sei die 116117 hochqualifiziert, aber „zahlenmäßig einfach zu klein“. Die 116117 müsse vor allem stabil nach oben skaliert werden, damit sie dann tatsächlich auch Ansprechzeiten habe, die für solche Systeme notwendig seien.

Harte Tür vs. offene Tür

Die Hotline-first-Strategie sehe vor, dass die Patientinnen und Patienten mit der Ersteinschätzung per Telefon eine „Art Akkreditierung“ zu einer angemessenen Versorgungsebene erhalten, erläuterte Hofmeister. „Man könnte also sagen, dass in anderen Ländern für die Versorgung zu sprechstundenfreien Zeiten dasselbe Prinzip gilt, das auch Berliner Clubgänger kennen, nämlich das Prinzip der harten Tür“, fuhr er fort. „Niemand kommt rein, der zuvor nicht entsprechend begutachtet wurde.“
 
Prof. Dr. Christian Wrede, Chefarzt im Helios-Klinikum in Berlin-Buch und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft Klinische Notfall- und Akutmedizin, plädierte dagegen für eine offene Tür: „Wir sehen in den Notaufnahmen auch immer wieder Patientinnen und Patienten, die vorher versucht haben, den vertragsärztlichen Sektor in Anspruch zu nehmen und keine Anlaufstelle gefunden haben. Mit einer harten Tür bleiben Patienten draußen, die sonst gar keine Tür finden.“ Ziel solle sein, den Patientinnen und Patienten, die eine Tür brauchen, diese auch zur Verfügung zu stellen.
Co-Autor Prof. Dr. Martin Scherer vom UKE stellte die Ergebnisse des Gutachtens vor. Foto: KBV/Celina Ritter

Einigkeit bei Hotline first

Harte Tür oder offene Tür – was sich zunächst auszuschließen scheint, meine eigentlich dasselbe, nämlich die Forderung einer effizienten Patientensteuerung, korrigierte Hofmeister. Fakt sei nun mal, dass Menschen, die akut medizinische Hilfe benötigten, selbst oftmals nicht angemessen einschätzen können, wo sie diese Hilfe am einfachsten und passendsten finden können. „Wir fordern nicht, dass die Patientinnen und Patienten keinen Zugang zur Notfallversorgung mehr bekommen sollen“, klärte der KBV-Vize auf. „Sie sollen alle angehört werden. Und wir wollen ihnen dafür ein Angebot machen. Aber die Fachleute sollen danach entscheiden, welche Versorgung angemessen ist. Diese Entscheidung dürfen wir nicht den Bürgerinnen und Bürgern überlassen, denn sie können diese Entscheidung nicht treffen.“

Die Steuerung solle vor allem für die Patientinnen und Patienten da sein, ergänzt Wrede. „Beispielsweise haben viele Menschen keinen Hausarzt oder der ist im Urlaub und dann wissen diese Patienten oft nicht, an wen sie sich wenden sollen.“ Die Strukturen müssen niederschwellig sein, und genau da setze Hotline first an, sind sich die Experten einig.

In Zukunft müssen Menschen in medizinischen Notsituationen verstehen lernen, dass sie erst bei der Hotline anrufen müssen. Das Umdenken könne Scherer zufolge „durchaus sehr schnell gehen“. Dies habe sich beispielsweise nach der 2015 von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Hamburg in Auftrag gegebenen PiNo Nord-Studie gezeigt.

Die Studie hat erfasst, dass „30 Prozent, derjenigen, die die Notaufnahme aufsuchen, das ambulante System gar nicht richtig kennen und beispielsweise nicht wussten, dass es den Kassenärztlichen Bereitschaftsdienst gibt“, führte Scherer aus. Darauf habe die KV Hamburg reagiert, indem sie den Arztruf Hamburg eingerichtet und das Webseitenangebot umgestellt hat. Das habe schnell dazu geführt, dass das Angebot deutlich besser angenommen wurde.

Anna Michel

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