09.02.2022

PraxisBarometer Digitalisierung 2021

Trotz TI-Problemen: Niedergelassene sehen Vorteile der Digitalisierung

Das Foto zeigt eine Ärztin, die auf einen Tablet-PC in ihrer Hand schaut.
Insbesondere junge Ärztinnen und Ärzte sind dem PraxisBarometer zufolge aufgeschlossen gegenüber digitalen Anwendungen: 94 Prozent der Unter-50-Jährigen sind an die Telematikinfrastruktur angeschlossen. Foto: istock/Ridofranz

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen soll den Praxisalltag erleichtern. Stattdessen führen die TI-Anwendungen häufig zu mehr Aufwand. Die Niedergelassenen stehen der Digitalisierung weiterhin offen gegenüber – die Fehleranfälligkeit der Telematikinfrastruktur (TI) löst bei ihnen jedoch zunehmend Frust aus. Das ist das Ergebnis des vierten PraxisBarometers zur Digitalisierung, das das IGES Institut im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) durchgeführt hat.

 

Rund 2.800 Praxen niedergelassener Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten haben 2021 an der Befragung teilgenommen. Insbesondere junge Ärztinnen und Ärzte sind dem PraxisBarometer zufolge aufgeschlossen gegenüber digitalen Anwendungen: 94 Prozent der Unter-50-Jährigen sind an die TI angeschlossen. Im Vergleich zum Vorjahr berichten aber immer mehr Niedergelassene von der Fehleranfälligkeit der TI. 50 Prozent der befragten Praxen haben mindestens wöchentlich mit Fehlern bei der TI-Nutzung zu kämpfen; der Anteil derer mit täglichen Störungen hat sich mit 18 Prozent sogar verdoppelt. Praxen in ländlichen Regionen (20 Prozent) gaben dabei eine höhere Fehleranfälligkeit an als Praxen in Großstädten (13 Prozent).

 

Ernüchterung in den Praxen

„Die Ergebnisse des PraxisBarometers Digitalisierung lassen sich mit einem Wort zusammenfassen: Ernüchterung. Das ist besonders deshalb tragisch, weil der Großteil der Ärzteschaft der Digitalisierung gegenüber eigentlich positiv eingestellt ist und sich durch sie Vorteile für die Versorgung erhofft“, kommentierte Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KBV, die Ergebnisse. „Voraussetzung für die Akzeptanz ist aber, dass neue Anwendungen den Praxisalltag erleichtern und die Patientenversorgung verbessern. Der Nutzen ist entscheidend“, ergänzte Dr. Thomas Kriedel, Mitglied des Vorstands der KBV. Dieser Nutzen sei im letzten Jahr aber immer seltener erkennbar gewesen. Die Folge: zunehmender Frust in den Praxen.

Die neuen elektronischen Gesundheitskarten legen beim Einführen in bestimmte Kartenlesegeräte durch elektrostatische Aufladung die Praxissysteme lahm. Foto: Adobe Stock / ISO K Medien GmbH

Über 3.850 Stunden habe es in den letzten 13 Monaten an Ausfällen bei der TI gegeben. „Grob gerechnet hat in der Telematikinfrastruktur nur jeden zweiten Tag alles funktioniert“, mahnte Kriedel. Zwei Drittel der Befragten (64 Prozent) schätzen die Fehleranfälligkeit als starkes Hemmnis für die Digitalisierung im Gesundheitswesen ein. 65 Prozent kritisierten zudem den hohen Umstellungsaufwand, ebenso viele ein ungünstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis digitaler Anwendungen und 55 Prozent fehlende Nutzerfreundlichkeit – im Vergleich zu 2020 ganze 14 Prozent mehr. „Ausfälle und technische Mängel sorgen nicht nur für Frust und Mehraufwand, sie setzen auch die generelle Akzeptanz der Digitalisierung aufs Spiel“, stellte Kriedel heraus. Dadurch werde es deutlich mühevoller, die Überzeugungsarbeit zu leisten.

 

Fehlerhafte Anwendungen

Sichtbar wurde die Störanfälligkeit beim jüngst aufgetretenen Problem des Einlesens neuer elektronischer Gesundheitskarten (eGK): „Die Kombination aus eGK, Winterwetter und Wollpullis“ lege die Praxissysteme lahm, so Kriedel. Die neuen Gesundheitskarten können sich in dieser Jahreszeit elektrostatisch aufladen. Beim Einstecken in gewisse Kartenlesegeräte entladen sie sich und verursachen eine Art Kurzschluss. Als vorläufige Lösung empfehle die gematik die Karten vor Nutzung zu erden, damit sie sich entladen können, indem beispielsweise die Karten mit einem Heizkörper berührt werden. Für Kriedel ist dies keine Digitalisierung. Sie bringe nur mehr Aufwand statt Entlastung.


Gesetzlich angekündigte Einführungstermine sind der Politik laut Hofmeister wichtiger, als einwandfrei funktionierende Verfahren in den Praxen. Dies zeigte sich vor allem bei der Einführung des elektronischen Rezeptes (eRezept): „Man wollte Ärzte und Versicherte in ein neues Auto einsteigen lassen, das bislang noch nicht einmal auf der Teststrecke zuverlässig funktioniert, und hätte dieses sehenden Auges vor die Wand fahren lassen!“, empörte sich der KBV-Vize. Es müssten vor der Einführung neuer Anwendungen ausreichende Tests durchgeführt werden, betonte er. Er verwies auf eine Petition der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns. In dieser wird gefordert, dass die Einführung von TI-Anwendungen wie elektronischer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung oder eRezept über die ersten zwölf Monate als Testphase ausgestaltet werden, an der sich die Anwenderinnen und Anwender freiwillig beteiligen können. Zudem müssen Ersatzverfahren dauerhaft möglich bleiben, damit im Fall technischer Störungen der Regelbetrieb in den Praxen – und damit die Versorgung der Patientinnen und Patienten – aufrechterhalten werden könne. Ende Dezember hat die Petition das erforderliche Quorum von 50.000 Unterschriften erreicht. Mitte Februar wird sich der Petitionsausschuss des Bundestages mit ihr befassen.

Das Foto zeigt eine Videosprechstunde. Dabei sitzt eine ältere Dame in ihrem Wohnzimmer und winkt über den Bildschirm ihres Laptops ihrer Ärztin zu.
Die Videosprechstunde hat sich bei Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten aufgrund der Covid-19-Pandemie innerhalb kurzer Zeit etabliert. Foto: istock/Vladimir Vladimirov

Videosprechstunde hat sich etabliert

Digitalisierung mit klarem Nutzen werde auch schnell im Versorgungsalltag angewendet, so Hofmeister. Das Beispiel der Videosprechstunde zeige dies. Das Angebot haben Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten aufgrund der Covid-19-Pandemie innerhalb kurzer Zeit ausgeweitet. Nach einem kurzfristig sehr starken Anstieg ging 2021 der Anteil von Praxen zurück, die Videosprechstunden angeboten haben (ein Fünftel der Arztpraxen statt ein Viertel im Vorjahr). Bei den psychotherapeutischen Praxen nutzten fast drei Viertel Videosprechstunden – sowohl 2020 als auch 2021. Technisch funktionierten die Videosprechstunden für die Mehrheit der Praxen problemlos. „Die Videosprechstunde hat während der Pandemie geholfen, Kontakte zu reduzieren und trotzdem die Versorgung aufrechtzuerhalten. Entsprechend stark wurde sie auch angeboten und nachgefragt. Sie ist aber nicht der berühmte Gamechanger, der alles ändert. Dazu ist ihr Einsatzgebiet zu begrenzt. Der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt ist und bleibt der Goldstandard“, resümierte Hofmeister.

 

KBV erwartet Kurswechsel der neuen Bundesregierung

Angesichts der im PraxisBarometer deutlich werdenden Stimmungslage in den Praxen forderte Kriedel: „Die Befragung macht einmal mehr deutlich, wie wichtig es ist, dass die versprochenen Vorteile der Digitalisierung auch endlich in den Praxen ankommen. Grundlage dafür wird sein, die neuen Anwendungen ausgiebig und mit genügend Vorlauf zu testen.“ Hierbei sollte der Gesetzgeber die Empfehlungen des eigenen Nationalen Normenkontrollrats beherzigen. Die Digitalisierung solle durchdacht und stringent sein sowie in Zusammenarbeit mit den Nutzerinnen und Nutzer. Zudem setze sich die KBV für entbürokratisierte und entbürokratisierende Gesetze ein. „Wenn die dafür vorgesehenen Fristen nicht das Ergebnis bringen, das wir in der Versorgung brauchen, dann bringt es auch nichts, wenn Politik sagt ‚Wir machen es trotzdem‘. Hier erwarten wir auch von der neuen Bundesregierung einen Kurswechsel – dass also der im Koalitionsvertrag versprochene ‚versorgungsrelevante Ausbau‘ der Digitalisierung nun auch umgesetzt wird“, ergänzte Hofmeister.

Die Ergebnisse des PraxisBarometers Digitalisierung sind auf der Website der KBV zu finden.

„Damit Digitalisierung in den Praxen nicht länger als notwendiges Übel wahrgenommen wird, das bestenfalls zwar gut gemeint, aber schlecht gemacht ist. Mit Nutzen überzeugen, statt mit der Brechstange – das wäre ein politischer Paradigmenwechsel, den wir als KBV gerne unterstützen.“

Lea Hanke

Einige Ergebnisse des PraxisBarometers Digitalisierung 2021

Das Schaubild zeigt den Anteil von Praxen, die Videosprechstunden anbieten. Das Ergebnis: 20 Prozent der Vertragsärzte, 74 Prozent der Psychotherapeuten und 37 Prozent insgesamt. Davon 29 Prozent im ländlichen Raum und 45 Prozent in Großstädten.
Das Schaubild zeigt, dass 47 Prozent aller Befragten, die Videosprechstunden anbieten, das Angebot zurückgefahren haben. 26 Prozent haben es seit Jahresbeginn 2021 eingestellt.
Das Schaubild zeigt: 15 Prozent der Praxen meinen, dass sich die Videosprechstunde für Neu-Patientinnen und -Patienten eignet. 71 Prozent halten die Videosprechstunde für langfristig betreute chronisch kranke Patientinnen und Patienten geeignet.
Das Schaubild zeigt die Hauptgründe der Praxen, Videosprechstunden wieder einzustellen. 49 Prozent: geringe Patientennachfrage, 40 Prozent Lockerung der Corona-Einschränkungen, 31 Prozent eingeschränkte Eignung für Diagnose
Das Schaubild zeigt: 74 Prozent aller Praxen sind mindestens teilweise gegenüber digitalen Innovationen aufgeschlossen.
Das Schaubild zeigt den Anteil der Praxen mit Anschluss an die TelematikInfrastruktur. Das Ergebnis: 89 Prozent aller ärztlichen Praxen und 77 Prozent aller psychotherapeutischen Praxen.
Das Schaubild zeigt die Fehlerhäufigkeit im Betrieb. 2020 waren das 9 Prozent täglich und 28 Prozent wöchentlich. 2021 waren das 18 Prozent täglich und 32 Prozent wöchentlich.