11.09.2024

Digitalisierung

Mit den Niedergelassenen arbeiten, nicht gegen sie

Helle Detailaufnahme von einer medizinischen Fachangestellte mit roten Stethoskop um den Hals und blauen Namensschild, die am Rechner etwas eintippt und eine Smartwatch trägt.
Digitale Anwendungen können für effizientere Abläufe im Praxisalltag sorgen – wenn sie funktionieren. Foto: iStock / Ivan-balvan

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist ein großes Versprechen. Sie gelobt die Hinwendung zu einer modernen wie effizienten Patientenversorgung; digitale Anwendungen sollen die Arbeit der Niedergelassenen und ihrer Praxisteams erleichtern und die Abkehr von bürokratischen Zeitfressern ermöglichen. Doch zwischen Mehraufwand und Mehrwert liegt ein langer und steiniger Weg.

So große Versprechen wie das Strategiepapier „Gemeinsam Digital“, das das Bundesgesundheits­ministerium (BMG) im März 2023 vorgelegt hat, lassen eine Zukunft erahnen, in der vieles besser laufen soll. Das BMG stellt dazu auf seiner Website nicht weniger als „ein gesünderes und längeres Leben für alle“ sowie eine qualitativ bessere und effizientere medizinische und pflegerische Versorgung in Aussicht.

Bundesgesundheitsminister Lauterbach will die Digitalisierung des Gesundheitswesens voranbringen. IMAGO / photothek

Im Wesentlichen nennt das Papier drei Handlungsfelder: Zum einen sollen Versorgungs- und Verwaltungsprozesse unter anderem durch eine Weiterentwicklung der Telematikinfrastruktur (TI), der elektronischen Patientenakte (ePA) und telemedizinischer Leistungen digital unterstützt werden. Zweitens wird angestrebt, die Forschungsdatenlandschaft mit Gesundheitsdaten zu stärken. Und drittens ist geplant, die gematik zu einer „Digitalen Gesundheitsagentur“ umzugebauen, die zukünftig die Nutzerorientierung stärken soll.

Grundsätzlich geht es voran

An Schnelligkeit in der Umsetzung mangelt es den Vorhaben erstmal nicht. Bereits ein Jahr nach Veröffentlichung des Papiers, im März 2024, sind das Digital-Gesetz (DigiG) und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) in Kraft getreten. Mit dem DigiG soll die Einführung digitaler Anwendungen vorangetrieben werden. Dazu gehört neben dem elektronischen Rezept (eRezept) ab 1. Januar 2024 vor allem die ePA, die ab Anfang 2025 für die gesetzlich Versicherten eingerichtet werden soll, sofern eine Person nicht widerspricht (Opt-out). Das GDNG soll vor allem die Nutzung von Therapiedaten für die Forschung erleichtern.

Auch in den Praxen hat die Digitalisierung in vielen Bereichen deutlich Fahrt aufgenommen. Einen signifikanten Zuwachs hat vor allem die Kommunikation der Niedergelassenen untereinander erzielt, wie die Ergebnisse des PraxisBarometers Digitalisierung 2023 aufzeigen. Auch bei den digitalen Angeboten der Praxen an ihre Patientinnen und Patienten ist eine Zunahme zu verzeichnen; ebenso bei den TI-Anwendungen. Beispielsweise nutzen inzwischen fast 92 Prozent der Befragten die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) und 53 Prozent elektronische Arztbriefe (eArztbriefe) – im Vorjahr waren es bei Letzteren nur 40 Prozent. „Die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen sind für die Digitalisierung im Gesundheitswesen generell sehr aufgeschlossen“, resümiert Dr. Sibylle Steiner, Vorstandsmitglied der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV).

Wenn sie dann funktionieren, können digitale Anwendungen zu einem effizienteren Ablauf in der Praxis beitragen. Das zeigen Erfahrungsberichte zum eArztbrief, den Praxen laut DigiG ab dem 30. Juni 2024 mindestens empfangen können müssen. Beispielsweise erzählt Dr. Lisa Herrmann, Fachärztin für Allgemeinmedizin: „Es ist wie bei allem Neuen, man muss nicht nur sich selbst damit erst mal bekannt machen, sondern dann auch das Praxisteam. Und man muss erst mal die nötige Infrastruktur dafür eventuell auch schaffen, Datenspeicher und so weiter. Also erst mal die Implementierung im Team selbst und nachdem das geschafft war, funktioniert das einwandfrei und ist für uns auch eine Zeitersparnis.“

Älterer Arzt mit Brille, blauer Krawatte und Stethoskop steht vor einer Fensterfront mit hellen Jalousien und schaut auf ein Tablet.
Der Gesetzgeber hat eArztbriefe zur Pflicht gemacht: Seit dem 30. Juni 2024 müssen Praxen laut Digital-Gesetz eArztbriefe mindestens empfangen können. Adobe Stock / bilderstoeckchen

Nicht alles Gold, was glänzt

So weit, so gut? Wohl kaum. Denn schnell ausgearbeitete Gesetze sind nicht unbedingt ein Qualitätsgarant. Betonte das Strategiepapier noch die Nutzerorientierung, die bei der Digitalisierung in den Fokus gerückt werden sollte, war davon im DigiG nicht mehr viel übrig. Beispielsweise lief der bundesweit verpflichtende Start des eRezepts alles andere als reibungslos. Hier wurden weder die Nutzerinnen und Nutzer und ihre Expertise bei der Entwicklung einbezogen, noch wurde die Anwendung ausreichend getestet, bevor man sie flächendeckend eingeführt hat. Sowohl Praxen als auch Apotheken wiesen immer wieder auf diverse technische Beeinträchtigungen hin.
 
Insgesamt beklagen rund 88 Prozent der Niedergelassenen, dass die derzeitigen Digitalisierungsmaßnahmen ihren Praxisablauf beeinträchtigen. Dies hat eine Befragung aus dem Dezember 2023 zur Lage der Praxen vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi) ergeben, die von der KBV beauftragt wurde.

Was ist die „ePA für alle“?

Alle gesetzlich Krankenversicherten sollen ab Januar 2025 eine elektronische Patientenakte (ePA) erhalten, es sei denn, sie widersprechen. Mit dieser Opt-Out-Regelung soll die ePA künftig breit genutzt werden. Sie soll die bisher an verschiedenen Orten wie Praxen und Krankenhäusern abgelegten Patientendaten digital zusammentragen. Damit haben Patientinnen und Patienten alle relevanten Informationen wie Arztbriefe, Befunde, Laborwerte oder die Medikation auf einen Blick digital vorliegen und stehen so auch den behandelnden Ärztinnen und Ärzten sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zur Verfügung. Weitere Informationen gibt es auf www.kbv.de.

Mammutprojekt ePA

Zentraler Bestandteil des DigiG ist die „ePA für alle“. Für deren Einführung braucht es als Grundvoraussetzung eine störungsfreie TI und funktionierende Praxisverwaltungssysteme (PVS). Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, „dann kann die ePA – zum Beispiel mit der automatisch verfügbaren Medikationsliste – zu einer Verbesserung der Prozesse in den Praxen durch eine Digitalisierung führen, die das Personal unterstützt und nicht behindert“, erklärt die KBV-Vorständin.

Sie betont ferner, dass für die weitere Digitalisierung im Gesundheitswesen eine „Kehrtwende“ notwendig sei. Es brauche gesetzliche Garantien, dass Anwendungen erst dann in die Versorgung kommen, wenn sie ihre Funktionsfähigkeit und Praxistauglichkeit nachgewiesen haben, so Steiner. Offenbar hat diese Forderung an das BMG Wirkung gezeigt: Anstelle eines bundesweiten Starts soll die ePA ab dem 15. Januar 2025 zunächst in den Modellregionen Franken und Hamburg getestet werden. Die Pilotphase dauert vier Wochen. Verläuft alles reibungslos, soll erst der bundesweite Roll-out erfolgen. Als Starttermin wird der 15. Februar 2025 angestrebt.

Gleichzeitig ist eine Testphase von nur vier Wochen ein durchaus sportliches Vorhaben, was sowohl die Softwarehersteller als auch die KBV beklagen. Dazu erklärt Steiner: „Vier Wochen, um das Zusammenspiel von unterschiedlichen elektronischen Patientenakten der Krankenkassen mit über 100 Praxisverwaltungssystemen und der damit zwangsläufig verbundenen unterschiedlichen Umsetzung der ePA-Module in unterschiedlichen Konstellationen der täglichen Praxis auszutesten und etwaige Fehler zu identifizieren … Vier Wochen: Herausfordernd für unser Gesundheitssystem!“

Detailansicht eine medizinischen Fachgestellten mit Stethoskop und türkisfarben Tunika, die mit dem rechten Zeigefinger auf eine simulierte Grafik der ePA tippt.
Für die ePA ist aktuell eine vierwöchtige Testphase in zwei Modellregionen geplant. Foto: Adobe Stock / MQ-Illustrations

Hohe Unzufriedenheit mit PVS

Herzstück einer erfolgreichen ePA-Einführung und gleichzeitig Achillesferse der Digitalisierung des ambulanten Bereichs sind die PVS. Diese müssen die Nutzung der ePA „schnell, einfach, gut bedienbar und stabil ermöglichen“, erklärt Steiner. Aktuell ist dieses Ziel eher ein Zukunftstraum.
 
Eine Befragung des Zi hat ergeben, dass drei von vier Praxen ihre derzeitige Praxissoftware nicht weiterempfehlen würden. Dies „belegt leider mit frappierender Deutlichkeit die hohe Unzufriedenheit der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen mit ihren PVS“, so Steiner. Diese Unzufriedenheit werde geschürt durch manchmal sogar tägliche Störungen der TI oder Probleme mit dem PVS, die die Praxisabläufe behindern und damit die Versorgung der Patientinnen und Patienten einschränken, erklärt Steiner. Der Wechsel des PVS ist alles andere als leicht, kostet Geld und Ressourcen.
 
Erschwerend kommt ein Mangel an Transparenz und Information hinzu. Die Politik muss deshalb aus Sicht der KBV bei der Regulierung von PVS tätig werden. Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist bereits getan: Seit Ende März bietet die KBV Herstellern an, eine Rahmenvereinbarung nach 332b SGB V abzuschließen. Dieser Rahmenvertrag legt die Regeln und Vorgaben für PVS fest. Für Praxen bedeutet ein „PVS mit KBV-Vertrag“, dass dieses durch anwendungsübergreifende Funktionen eine komfortablere Unterstützung der Praxisabläufe bietet.

Nutzerfreundlichkeit zentraler Aspekt

Mit dem vorläufigen Referentenentwurf des Gesundheits-Digitalagentur-Gesetzes (GDAG) liegt so eine Regulierung nun auf dem Tisch. Das GDAG sieht zum einen vor, dass die gematik zur „Digitalagentur Gesundheit“ aufgewertet wird. Als solche soll sie künftig auch qualitative und quantitative Anforderungen an die Praxisverwaltungssoftware definieren. Außerdem hat sie dann Durchgriffsrechte inne, die sie nutzen kann, wenn im Zusammenhang mit der TI Störungen oder Instabilitäten auftreten.

KBV-Vorstandsmitglied Steiner fordert, dass Anwendungen erst dann in die Versorgung kommen, wenn sie ihre Funktionsfähigkeit und Praxistauglichkeit nachgewiesen haben. Foto: KBV / Anna Michel
Insgesamt strebt das GDAG an, die Praxistauglichkeit und Nutzerfreundlichkeit zu stärken – ein zentraler Aspekt, auf den KBV und diverse Berufsverbände immer wieder gedrängt haben. „Der Abbau der aktuell erkennbaren Defizite in der Interoperabilität, Performanz, Stabilität und Nutzerfreundlichkeit der informationstechnischen Systeme ist auch nach Auffassung der KBV für den weiteren Erfolg der Digitalisierung und insbesondere der so genannten ‚ePA für alle‘ erfolgsentscheidend“, schreibt die KBV in ihrer Stellungnahme zum Referentenentwurf.

Für eine Stärkung der Anwenderperspektive und Nutzerfreundlichkeit sei aus Sicht der KBV allerdings auch eine grundsätzliche Änderung der Gesellschafterstruktur notwendig, die zwar angekündigt wurde, der Gesetzesentwurf aktuell aber nicht vorsehe. „Damit werden uns unverändert nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten eingeräumt, die Expertise derjenigen ausreichend einzubringen, die die ambulante vertragsärztliche und psychotherapeutische Versorgung gewährleisten“, kritisiert Steiner.

Es kann nur besser werden

Erfahrungen sammeln, Fehler aufzeigen und es beim nächsten Mal besser machen – das ist der Anspruch mit dem die KBV und Kassenärztlichen Vereinigungen ein gemeinsames Positionspapier zu eFormularen veröffentlicht haben. Ziel ist es, auf Basis der Rückmeldungen aus den Praxen nach der Einführung der eAU und des eRezepts aufzuzeigen, wie bei der Entwicklung anderer digitaler Anwendungen zukünftig die Praxistauglichkeit und Anwenderperspektive gestärkt werden kann. „Wenn man die Digitalisierung zum Erfolg führen möchte, dann muss man mit den Ärztinnen und Ärzten und Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten arbeiten und eben nicht gegen sie“, fordert Steiner.

Anna Michel