23.09.2024

Schweden – Weltspitze in Sachen eHealth

Panoramaansicht von Stockholm mit der schwedischen Flagge im Vordergrund
Schweden zählt zu den Vorreitern beim Thema digitale Gesundheitsversorgung. Foto: Adobe Stock / Alexi Tauzin

Mit dem Projekt Vision for eHealth 2025 hat Schweden sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Das Land will weltweit führend im Bereich eHealth werden. Die Chancen auf den Titel stehen gut. Die elektronische Patientenakte (ePA) wird seit fast einem Jahrzehnt erfolgreich genutzt und rund zehn Prozent der der medizinischen Konsultationen werden mithilfe von Telemedizin abgewickelt. Doch es gibt auch Schattenseiten: Vor allem die langen Wartezeiten und der Fachkräftemangel werden in Zukunft die medizinische Versorgung beeinträchtigen.

Schweden ist bekannt für Köttbullar, rote Holzhäuser und einen starken Sozialstaat. Das Land steht beispielhaft für eine weitreichende Umsetzung sozialdemokratischer Politik, die soziale Gerechtigkeit, Gleichheit sowie hochwertige Bildung und Gesundheitsversorgung betont.

Der Erfolg dieses Wertesystems schlägt sich in der hohen Lebenszufriedenheit der rund 10,5 Millionen Schwedinnen und Schweden nieder: Die Auswertungen des World Happiness Reports 2024 zeigen, dass die Menschen auf der skandinavischen Halbinsel sehr glücklich sind. Schweden belegt den vierten Platz von insgesamt 143 analysierten Ländern. Das liegt auch am hohen Lebensstandard: Laut eurostat belegt Schweden mit einem Pro-Kopf-BIP von 42.400 Euro den siebten Platz in der EU und liegt damit deutlich über dem EU-Durchschnitt (35.500 Euro).

In der staatlichen Försäkringskassan sind alle Einwohnerinnen und Einwohner automatisch Mitglied. Foto: IMAGO / Bildbyran

Ein zentrales System

Die Organisation des Gesundheitssystems ist dezentral durch Schwedens 21 Regionen und deren Regionalparlamente ("Regionfullmäktige") sowie durch die rund 290 Gemeinden geregelt. Während die nationale Regierungsebene vergleichsweise geringe Entscheidungsbefugnisse hat und lediglich die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Gesundheitsversorgung vorgibt, obliegt deren Sicherstellung und die entsprechende Finanzierung den Provinziallandtagen. Diese können jeweils individuell entscheiden, wie sie die ambulante und stationäre Versorgung für ihre Region gestalten.
 
In Schweden gibt es nur eine Sozialversicherung, die staatliche Försäkringskassan, in der alle Einwohnerinnen und Einwohner automatisch Mitglied sind. Das staatliche System ermöglicht einen Zugang zur medizinischen Versorgung – auch für nicht-schwedische Staatsbürgerinnen und -bürger. Der überwiegende Anteil wird durch die Einkommenssteuer finanziert, die jede Provinz individuell festlegt. Verdienen in einer Region die Menschen besser, so wirkt sich das auf die Mittel aus, die dort für die Versorgung zur Verfügung stehen.
 
Durch Eigenbeteiligung bei Arztbesuchen zahlen auch Patientinnen und Patienten ins System ein. Diese müssen eine Gebühr entrichten, egal, welche medizinische Anlaufstelle sie beanspruchen. Mitunter gibt es zwischen den Provinzen große Differenzen. Um die Bürgerinnen und Bürger nicht zu sehr zu belasten, sind die Ausgaben nach oben hin gedeckelt. Sobald ein Betrag von 1.200 Kronen (ca. 104 Euro) erreicht ist, sind weitere Behandlungen für den Rest des laufenden Kalenderjahres kostenfrei. Ein Limit gibt es auch für die Eigenbeteiligung an rezeptpflichtigen Medikamenten, dieses liegt seit dem 1. Januar 2024 bei 2.850 Kronen (ca. 248 Euro) im Jahr.
 
Besonders in den dünn besiedelten Gebieten, wie auf der Insel Gotland, ist die medizinische Versorgung eine Herausforderung. Foto: Adobe Stock / Pixelheld

Zugang zur Versorgung

Das Ziel des schwedischen Gesundheitssystems ist ein angemessener und bedarfsgerechter Zugang zur medizinischen Versorgung für alle, unabhängig von Einkommen und Wohnort. Das Prinzip „Bedarf und Solidarität“ stellt sicher, dass Patientinnen und Patienten mit dem größten Bedarf vorrangig behandelt werden. Außerdem sollen unnötige Untersuchungen vermieden werden, um Kosten zu sparen.
 
Bei Gesundheitsfragen wird in der Regel die zuständige vårdcentral telefonisch kontaktiert. Das sind lokale Gesundheitszentren, in denen Allgemein- sowie Fachärztinnen und -ärzte gemeinsam unter einem Dach arbeiten. Die meisten Hausarztkontakte erfolgen über die in den Zentren angestellten Ärztinnen und Ärzte, nur wenige in privaten Praxen. Je nach Fall behandeln die Ärztinnen und Ärzte in den Gesundheitszentren die Patientinnen und Patienten selbst oder überweisen sie zu Spezialistinnen und Spezialisten, die meist in Krankenhäusern oder Polikliniken arbeiten.
 
Zusätzlich gibt es die medizinische Servicehotline 1177. Dort kann man sich von geschultem Fachpersonal beraten und in begrenztem Umfang diagnostizieren lassen. Die 1177 gibt auch Auskünfte darüber, an welche Stelle man sich mit der jeweiligen gesundheitlichen Beschwerde wenden kann. Dieses System soll Aufwand und Zeit sparen und die Häufigkeit der Arztbesuche reduzieren, ohne die Gesundheit der Patientinnen und Patienten zu beeinträchtigen. Es überrascht daher nicht, dass Schweden ein Land mit auffallend wenig Arztkontakten ist. Laut OECD Health Statistics gehen Patientinnen und Patienten auf der skandinavischen Halbinsel pro Jahr 2,3 Mal zum Arzt (zum Vergleich: in Deutschland sind es 9,6 Mal). Ist ein Arztbesuch notwendig, wird man an die vårdcentral verwiesen.

Lange Wartezeiten

Wer einen Arztbesuch benötigt, muss mit langen Wartezeiten rechnen. Zwar unterstützen die Schwedinnen und Schweden das staatliche Gesundheitssystem, doch die Wartezeit ist ein konstanter Kritikpunkt. 2005 reagierte der Staat mit der 0-3-90-90-Tage-Regelung.
 
Der unmittelbare Zugang zu medizinischer Versorgung soll allen Bürgerinnen und Bürgern offenstehen. Außerdem soll es möglich sein, einen Termin bei einer Allgemeinärztin oder einem Allgemeinarzt innerhalb von drei Tagen zu erhalten. Bis eine Patientin oder ein Patient eine Spezialistin oder einen Spezialisten sieht, dürfen nicht mehr als 90 Tage vergehen. Die gleiche Frist gilt für den Behandlungsbeginn, nachdem eine Diagnose gestellt wurde und beispielsweise eine Operation vorgenommen werden muss. Werden diese Fristen nicht eingehalten, muss der Landtag die Mehrkosten für Reise, Unterbringung und die Behandlung in einer benachbarten Provinz zahlen.

Hohe Unzufriedenheit bei Ärztinnen und Ärzten

In Schweden herrscht seit Jahren Ärztemangel, bedingt durch den demografischen Wandel und die Unzufriedenheit der Ärztinnen und Ärzte. Eine im Jahr 2022 von der Gewerkschaft und Berufsorganisation für Ärzte und Medizinstudenten in Schweden (Sveriges läkarförbund) durchgeführte Umfrage ergab, dass sechs von zehn Ärztinnen und Ärzten darüber nachdenken, ihren Arbeitsplatz zu verlassen, ihre Arbeitszeit zu reduzieren oder ganz aus dem Beruf auszusteigen.
 
Gegen den hohen Mangel an Ärztinnen und Ärzten will das Land händeringend Fachkräfte aus dem europäischen Ausland anwerben und setzt auf konkrete Anreize: geregelte Arbeitszeiten, keine Überstunden, kostenlose Sprachkurse oder vier Wochen Urlaub am Stück.
 
Eine ältere Dame sitzt in einem Sessel vor einem kleinen Tisch mit einem Laptop drauf. Sie hat die Manschette des Pulsmessgerätes an ihrem linken Arm und ist im Gespräch mit einer Ärztin via Videocall.
Rund 10 Prozent der medizinischen Konsultationen finden in Schweden per Telekommunikation statt. Foto: Adobe Stock / Melinda Nagy

eHealth: Vorbild für andere Länder

Schweden zählt zu jenen Ländern, die schon sehr früh die Potenziale von eHealth erkannt haben. Mit großem Erfolg: Das Land zählt seit Jahren zu den Spitzenreitern in Sachen digitaler Gesundheitsversorgung. Im Rahmen der nationalen eHealth Strategy brachte man bereits im Jahr 2006 unter anderem den Aufbau digitaler Gesundheitsdienste und -anwendungen wie der ePA auf den Weg.

Mit dem Projekt Vision for eHealth 2025 konzentriert man sich dagegen auf die Interoperabilität und Integration von konkurrierenden und regionalen IT-Systemen. Dazu gehören zum einen die etwa 1.200 Gesundheitszentren, aber auch die digitalen Gesundheitsportale und Apps mit ePA-Anbindung – wie das Gesundheitsportal 1177 oder die Portale privater Anbieter wie Doktor.se, Kry und Min Doktor.

Grafik: KloseDetering

Integraler Bestandteil der Versorgung: Telemedizin

Mit einer Fläche von rund 450.000 Quadratkilometern zählt Schweden zu den größten Ländern Europas. In Sachen Bevölkerungsdichte bildet das nordische Land dagegen im europäischen Vergleich das Schlusslicht. Das Land ist groß, die Strecken weit und einige Gegenden sehr dünn besiedelt. Um dennoch die medizinische Versorgung sicherzustellen, setzt Schweden auf ein Modell hybrider Gesundheitsversorgung. Patientinnen und Patienten werden zunächst digital behandelt und nur bei Bedarf physisch einbestellt. Dieses Konzept ermöglicht für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte zudem flexiblere Arbeitszeitenmodelle bei gleichwertiger Vergütung.
 
Patientinnen und Patienten werden zunächst bei einer Ersteinschätzung durch medizinisches Fachpersonal per Telefon oder Chat beraten. Im Anschluss ist eine Videosprechstunde mit einer Ärztin oder einem Arzt möglich. So werden beispielsweise dermatologische Untersuchungen live von einer Fachärztin oder einem Facharzt mitverfolgt, die oder der in einem Krankenhaus mehrere hundert Kilometer entfernt sitzen kann.
 
Außerdem gibt es Virtual Care Rooms, in denen Patientinnen und Patienten unter Anleitung selbst medizinische Parameter erheben können, beispielsweise den eigenen Blutdruck. Ärztinnen und Ärzte können diese Werte dann per Video besprechen und beispielsweise rezeptpflichtige Medikamente per eRezept verschreiben, ambulante Untersuchungen anordnen oder Überweisungen an Fachärztinnen oder Fachärzte veranlassen.
Der ehemalige schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell gilt als der Begründer des schwedischen Sonderwegs. Foto: IMAGO / TT

Der schwedische Sonderweg – ein Erfolgsmodell?

Kein Lockdown, keine Maskenpflicht, geöffnete Cafés: Schwedens Sonderweg im Umgang mit der Coronapandemie hat international für Kritik gesorgt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern verzichtete die Regierung auf harte Restriktionen, vielmehr wurden Bürgerinnen und Bürger aufgefordert, Verantwortung zu übernehmen und solidarisch zu handeln. Und das hat erstaunlich gut funktioniert: Die Schwedinnen und Schweden haben sich freiwillig impfen lassen, Masken getragen und ihre Kontakte reduziert.
 
Die ungewöhnliche Strategie basiert vor allem auf dem Vertrauen in die Wissenschaft. Gleich zu Beginn der Krise erklärte die Regierung, dass sie auf die Expertise der Volksgesundheitsbehörde „Folkhälsomyndigheten“ setze und sich hauptsächlich auf die Ausführung der empfohlenen Maßnahmen beschränke. Der bis 2022 amtierende Staatsepidemiologe in der Folkhälsomyndigheten, Anders Tegnell, gilt als Vater des schwedischen Sonderwegs. Während das Robert Koch-Institut lediglich das blanke Infektionsgeschehen in Deutschland im Blick hatte, setzte die schwedische Volksgesundheitsbehörde auf einen ganzheitlichen Ansatz. Das bedeutet, dass einzelne Maßnahmen auch beispielsweise hinsichtlich ihrer sozialen Auswirkungen geprüft wurden.
 
Insgesamt kamen die Maßnahmen bei der Bevölkerung gut an. Laut einer Umfrage im Juni 2020 lag der Anteil der Schwedinnen und Schweden, die die Corona-Strategie befürworten, bei 53 Prozent. Im Laufe der gesamten Pandemie schwankte dieser Wert zwischen 42 und 62 Prozent, im Januar 2022 lag er mit 52 Prozent fast wieder beim Ausgangspunkt. Nur 23 Prozent standen der Strategie kritisch gegenüber.
Tabea Breidenbach und Anna Michel
 
(Dieser Artikel erschien ursprünglich im Januar 2019. Er wurde aktualisiert und in abgeänderter Form online gestellt.)

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