Gesundheit anderswo
08.07.2021
Norwegen: Wohlhabend, sozial – und gut versorgt?
Die gleiche medizinische Versorgung für alle – in Norwegen ein Grundsatz mit langer Tradition. Doch das staatliche Gesundheitssystem hat seinen Preis. Reicht der aus, um auch die entlegensten Ecken im hohen Norden zu versorgen?
„Du sollst nicht glauben, dass du etwas Besonderes bist.“ Dies ist der erste Satz der sogenannten Janteloven, der „Gesetze von Jante“. Der Verhaltenskodex aus den 1930ern ist tief im skandinavischen Selbstverständnis verankert. Seine insgesamt zehn sozialen Spielregeln rufen das Individuum zu Demut, Bescheidenheit und Rücksicht für Mitbürgerinnen und Mitbürger auf. Auch wenn die Relevanz der „Gesetze“ heutzutage mehr und mehr infrage gestellt wird, lässt sich durch sie doch erahnen, mit was für einer Gesellschaft man es im europäischen Norden – und insbesondere in Norwegen – zu tun hat.
Das Land an Nordsee und Atlantik legt seit jeher großen Wert auf Umverteilung und soziale Verträglichkeit. Seine 5,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner leben in einem der wohlhabendsten Staaten der Welt – regelmäßig rangiert dieser in Sachen Einkommen, Sicherheit und Lebensqualität auf den ersten Plätzen diverser Indizes.
Erheblichen Anteil daran hat der große Ressourcenreichtum, insbesondere von Öl und Gas. Durch deren Export konnte das Land den größten Staatsfonds der Welt aufbauen, der umgerechnet über eine Billion Euro verwaltet. Diese werden weltweit in Aktien, Immobilien und andere Vermögenswerte investiert, um für Zeiten abnehmender Fördermengen vorzusorgen.
Ein System für alle
Auch im Gesundheitssystem des Landes gilt generell der Grundsatz: Alle Bürgerinnen und Bürger erhalten jederzeit dieselbe medizinische Versorgung – unabhängig von Wohnort, Einkommen oder beruflicher Tätigkeit. Die Gesundheitsversorgung ist Aufgabe des Staates, insbesondere der Gesundheits- und Sozialministerien. Ihnen unterstehen unter anderem die vier Regionalen Gesundheitsbehörden (RHF) und die daran angegliederten Krankenhaus-Trusts. Der stationäre und ambulante Facharztbereich liegt damit zu großen Teilen in zentralstaatlicher Hand – denn auch die meisten privaten Krankenhäuser sind vertraglich an die RHF gebunden.
Dennoch ist das System nur teilzentralisiert: Eine weitere wichtige Rolle nehmen Kommunen und die sogenannten Fylke ein, also Provinzen, die mit deutschen Bundesländern vergleichbar sind. Letztere sind verantwortlich für öffentliche Gesundheit und die Sicherstellung der zahnärztlichen Versorgung, die Kommunen dagegen für den hausärztlichen Versorgungsbereich. Hausärztinnen und Hausärzte sind aber keine Angestellten der Kommunen, sondern nehmen als selbstständige Unternehmerinnen und Unternehmer über Verträge mit den Kommunen an der staatlichen Gesundheitsversorgung teil.
Drei Finanzierungswege
Einen mit Deutschland vergleichbaren Versicherungswettbewerb gibt es nicht. Generell sind alle Personen mit Wohnsitz in Norwegen Mitglied der folketrygden, der staatlichen Sozialversicherung. Auch Ausländer zählen dazu, wenn sie länger als zwölf Monate im Land verweilen. Für Arbeitnehmer entfallen 8,2 Prozent ihres Gehalts auf Sozialversicherungsbeiträge; bei Selbstständigen fällt dieser Satz höher (11,4 Prozent), bei Rentnern etwas niedriger aus (5,1 Prozent). Für Arbeitslose und Geringverdiener entfällt die Beitragspflicht. Die Arbeitgeberbeiträge variieren dagegen regional zwischen null und 14,1 Prozent.
Die zweite wichtige Finanzierungsquelle sind Steuern, die über den jährlich vom Parlament verabschiedeten Staatshaushalt in das Gesundheitssystem eingespeist werden. Der Anteil öffentlicher Gelder an den gesamten Gesundheitsausgaben liegt damit bei 85,3 Prozent – Spitze in Europa (in Deutschland lag der Anteil 2018 bei 77,7 Prozent).
Darüber hinaus fallen mit dem Besuch der meisten Leistungserbringer Gebühren an – der dritte und letzte Finanzierungsweg. So kostet ein regulärer Hausarztbesuch die Patientin beziehungsweise den Patienten in der Regel 160 norwegische Kronen, umgerechnet knapp 16 Euro. Zu Bereitschaftsdienstzeiten fällt dieser Betrag etwas höher aus.
Zuzahlungen mit Grenzen
Um den Zugang zu angemessener Versorgung trotzdem so niedrigschwellig wie möglich zu halten, sind die Gebühren, die Patientinnen und Patienten pro Jahr maximal entrichten müssen, begrenzt – im Jahr 2021 liegt diese vom Parlament festgelegte Grenze bei umgerechnet 241 Euro. Ausnahmen sind etwa Impfungen bei Kindern und Pflege in den eigenen vier Wänden, die generell kostenlos sind. Dasselbe gilt für Aufenthalte in Krankenhäusern der RHF, eine entsprechende Überweisung durch die Hausärztin oder den Hausarzt vorausgesetzt.
Anders sieht es bei der zahnärztlichen Versorgung aus: Hier gibt es – Kinder und Jugendliche ausgenommen – kein gesetzlich festgelegtes Gebührenlimit. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation beträgt der Anteil privater Ausgaben in diesem Versorgungsbereich dementsprechend circa 70 Prozent. Ähnliches gilt für Pflegeheime und Wohnstätten für Menschen mit Behinderungen.
Trotz der hohen Eigenbeteiligungen und längeren Wartezeiten, insbesondere in der fachärztlichen Versorgung, spielen Zusatzversicherungen keine große Rolle. Im Jahr 2016 waren nur zehn Prozent der Norweger privat zusatzversichert – wenn, dann meist über den Arbeitgeber. Auch wenn solche Verträge in den vergangenen 20 Jahren immer häufiger geschlossen wurden, entfällt darauf weniger als ein Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben.
Europas Spitze – nicht nur geographisch
Bei den Gesundheitsausgaben pro Kopf wird Norwegen mit 6.519 Euro (2017) europaweit nur noch von der Schweiz getoppt (8.217 Euro). Angesichts des hohen Durchschnittseinkommens kann das System diese hohen Ausgaben aber verkraften. Zwar lassen sich soziale Ungleichheiten erkennen – beispielsweise ist der Anteil unerfüllten medizinischen Bedarfs bei Geringverdienern deutlich erhöht. Dennoch bewegt sich das Land damit noch immer unter dem europäischen Durchschnitt.
Versorgungsengpässe gibt es vor allem im spärlich bewohnten Norden. Zwar deckt sich landesweit die Krankenhaus- mit der Bevölkerungsdichte; außerdem gibt es in Norwegen überdurchschnittlich viele Ärztinnen, Ärzte und Gesundheitspersonal. Dennoch haben Patientinnen und Patienten in kälteren Gegenden häufiger mit langen Wartezeiten und Anfahrtswegen zu kämpfen. In einigen der insgesamt 356 Kommunen gibt es bisweilen gar keine Hausärztinnen und Hausärzte mehr.
Dementsprechend wurden in den vergangenen Jahren Reformen angestoßen, die unter anderem die intersektorale Zusammenarbeit verbessern sollen. Auch Modellversuche interdisziplinärer, mobiler Ärzteteams zählen dazu. Allerdings zeigen diese Maßnahmen bisher nur bedingt Erfolg; so wird auch für Norwegen ein Ärztemangel prognostiziert, der das Problem weiter verschärfen würde.
Angesichts des egalitären Anspruchs des norwegischen Gesundheitssystems fallen solche Versorgungslücken natürlich auf. Auch die je nach Sektor unterschiedlich hohen Zuzahlungen und vergleichsweise hohen Preise für Arzneimittel und Behandlungen sind eine soziale Belastung. Auf der anderen Seite steht das Land im internationalen Vergleich immer noch sehr gut da: In Sachen Lebenserwartung, Sterblichkeit und weiterer gesundheitlicher Indikatoren rangiert es meist unter den Top-Plätzen in Europa und der Welt. Allgemeiner Wohlstand, ein gefestigtes soziales Sicherungssystem und die finanzielle Vorsorge für wirtschaftlich schlechtere Zeiten machen ein Scheitern des Gesundheitssystems höchst unwahrscheinlich. Es bleibt dennoch die Frage, inwiefern Norwegen sein soziales Versprechen angesichts demografischen Wandels, Ärztemangels und weiterer Herausforderungen auch in Zukunft einhalten können wird.
Hendrik Schmitz
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