16.06.2021

Lettland: Der lange Schatten der Finanzkrise

Foto: iStock.com / mbonaparte

Die Weltwirtschaftskrise von 2008 markiert einen Wendepunkt im lettischen Gesundheitssystem: Angesichts großer sozialer Ungleichheiten stieg man auf einen steuerfinanzierten Gesundheitsdienst nach englischem Vorbild um. Seitdem schraubt die Politik mit Krankenhausabbau, Gehaltserhöhungen und anderen Maßnahmen an der Versorgungsqualität.

Das geografisch gesehen mittlere Land des Baltikums ist mit seinen 1,9 Millionen Einwohnern eines der am dünnsten besiedelten Europas. Auf einen Quadratkilometer kommen hier durchschnittlich gerade einmal 30,4 Menschen (Deutschland: 234,7). In der Hauptstadt Riga lebt circa ein Drittel, in ihrem Ballungsraum sogar mehr als die Hälfte der Bevölkerung Lettlands. Damit ist sie wirtschaftliches, politisches und kulturelles Zentrum des Landes und der Region. Gleichzeitig zeigt sich hier ein wirtschaftliches Stadt-Land-Gefälle, das sich auch im Gesundheitswesen niederschlägt: Je näher man der Landesgrenze kommt, desto sporadischer wird der Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung. Ein Großteil der praktizierenden Ärztinnen und Ärzte arbeitet in Riga und Umgebung.

Hin und Her der Zuständigkeiten

Nach der Unabhängigkeit im Jahr 1991 experimentierte das Land zunächst mit einem Sozialversicherungssystem. Institutionelle Überbleibsel der Sowjetunion wurden privatisiert und die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung an Gemeinden und Krankenkassen abgegeben. Die Zerstückelung der Verantwortlichkeiten machte die medizinische Versorgung aber höchst ineffektiv. Gerade in ländlichen Regionen hatte man große Schwierigkeiten, gewinnbringend beziehungsweise kostendeckend zu arbeiten. Anfang der 2000er wurden deshalb die 35 lokalen zu acht regionalen Krankenkassen zusammengefasst, bevor man 2002 gänzlich zu einer gesamtstaatlichen Lösung überging.

Mehr als die Hälfte der Hausarztpraxen befinden sich in der Hauptstadt Riga – auf dem Land herrscht dagegen chronischer Ärztemangel. Foto: IMAGO / Shotshop

Eine Zäsur für das Land stellte die Finanzkrise ab dem Jahr 2008 dar. Das Bruttoinlandsprodukt sank um ein Viertel; bis 2010 stieg die Arbeitslosenquote auf 19,5 Prozent. Damit war Lettland eines der am schwersten getroffenen Länder innerhalb der Europäischen Union (EU). In der Folge wurden Gesundheitsausgaben gekürzt und ein Großteil der Kosten auf die Versicherten abgewälzt. Es kam zu massiven Gehaltskürzungen bei Ärztinnen, Ärzten und medizinischen Angestellten; die Wartezeiten der Patientinnen und Patienten erreichten ungekannte Längen. Bis heute stagnieren die Einkommensunterschiede zwischen lettischen Bürgerinnen und Bürgern auf vergleichsweise hohem Niveau.

Ein Gesundheitsdienst für alle

Im Jahr 2011 folgten die umfassendsten Gesundheitsreformen seit Zusammenbruch der Sowjetunion. Kompetenzen wurden wieder stärker zentralisiert und ein nationaler Gesundheitsdienst eingeführt, der Nacionālais veselības dienests (NVD). Ähnlich wie der britische National Health Service ist der NVD für die medizinische Versorgung des Landes zuständig. Er ist dem Gesundheitsministerium unterstellt und wird, anders als beispielsweise in Deutschland, durch allgemeine Besteuerung finanziert. Die Sozialversicherungssteuer ist dabei die wichtigste Finanzierungsquelle, gefolgt von der Einkommenssteuer.

Ministerpräsident Krišjānis Kariņš erhält seine erste Impfdosis gegen das Corona-Virus – die Pandemie stellt das angeschlagene lettische Gesundheitssystem vor große Herausforderungen. Foto: IMAGO / Xinhua

Laut Gesetz haben alle lettischen Einwohnerinnen und Einwohner Recht auf eine medizinische Grundversorgung. Entsprechend legt der NVD in Positiv- und Negativlisten fest, was zu einer solchen Grundversorgung gehört – und was nicht. Bestimmt wird dort also, welche Behandlungen und Arzneimittel erstattungsfähig sind. Zahnpflege bei Erwachsenen, Rehabilitationen, berufliche Vorsorgeuntersuchungen und Abtreibungen gehören beispielsweise nicht dazu und müssen aus eigener Tasche oder durch private Zusatzversicherungen gezahlt werden. Bei den Medikamenten übernimmt der NVD ebenfalls nicht alles – entsprechend müssen die Kosten auch hier bei Bedarf selbst getragen werden.

Chronische Unterfinanzierung

Die lückenhafte Abdeckung in der Gesundheitsversorgung liegt vor allem an den niedrigen Gesundheitsausgaben. Diese umfassten im Jahr 2017 lediglich 6,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zum Vergleich: In Deutschland betrug dieser Anteil im selben Jahr 11,1 Prozent. Dabei kommt der Staat nur für etwas mehr als die Hälfte der gesamten Gesundheitsausgaben auf (in Großbritannien sind es über 80 Prozent) – der üppige Rest stammt aus privater Hand.

Seit 1996 ist es Lettinnen und Letten möglich, sich privat versichern zu lassen. Insbesondere Zusatzversicherungen für nicht erstattungsfähige Leistungen gewannen dadurch mehr und mehr an Bedeutung – sind jedoch meist nur für Angestellte von Firmen verfügbar, die mit privaten Versicherern zusammenarbeiten. So waren im Jahr 2018 immerhin 35% der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer privat zusatzversichert. Insgesamt spielt diese Art der Versicherung aber eine untergeordnete Rolle: Im Jahr 2015 entfielen darauf nur 4,4 Prozent der privaten Gesundheitsausgaben.

Auch bei der Durchimpfung gegen Covid-19 liegt Lettland noch hinter dem EU-Durchschnitt – in Impfzentren wie hier in Riga helfen auch Soldatinnen und Soldaten bei der Immunisierung. Foto: IMAGO / Xinhua

Den Löwenanteil an letzteren stellen heute Eigenbeteiligungen – also direkte Zahlungen an die Leistungserbringerin oder den Leistungserbringer. Da der Verdienst von NVD-Ärztinnen und -Ärzten im EU-Schnitt sehr gering ausfällt, sind Zahlungen „unter der Hand“ an der Tagesordnung. Einem Eurobarometer-Bericht über Korruption zufolge gaben 2017 acht Prozent der befragten Lettinnen und Letten an, in den vergangenen zwölf Monaten informelle Zahlungen an Leistungserbringer getätigt zu haben.

Die mangelhafte Finanzierung des Gesundheitssystems wirkt sich auch auf den zunehmenden Ärztemangel aus: Zum einen fehlt es dem Land an medizinischem Nachwuchs, zum anderen tendieren bereits ausgebildete Ärztinnen und Ärzte vermehrt dazu, ihre beruflichen Chancen im europäischen Ausland zu suchen. Insbesondere auf dem dünn besiedelten Land gibt es deswegen große Probleme bei der Sicherstellung der Versorgung. Etwas Abhilfe schaffen hier zwar die sogenannten Feldschere – eine historisch gewachsene Form von Heilkundigen ohne die akademische Ausbildung einer Ärztin oder eines Arztes; das Problem allein lösen können diese aber nicht. Hausärztinnen und Hausärzte sind nämlich gerade auf dem Land rar gesät. Besonders problematisch ist das, weil sie im lettischen Gesundheitswesen als Gatekeeper fungieren: Für einen Besuch bei der Fachärztin oder beim Facharzt ist eine Überweisung durch die Hausärztin oder den Hausarzt in den meisten Fällen zwingend notwendig.

Neue Reformen

In den vergangenen Jahren wurden mit dem Ziel einer qualitativ hochwertigeren und breiteren Versorgung einige Reformen angestoßen. So soll unter anderem die Zahl der Krankenhäuser reduziert werden, um das Gesundheitswesen zukünftig effizienter zu gestalten. Und tatsächlich lässt sich hier ein Abwärtstrend erkennen: Wurden 1997 noch 156 Krankenhäuser betrieben, waren es im Jahr 2017 nur noch 63. Dementsprechend sank auch die Zahl der verfügbaren Krankenhausbetten – mit 5,5 Betten pro 1000 Einwohnern liegt das Land aber immer noch über dem EU-Durchschnitt (4,6). Gleichzeitig vergrößerte sich der ambulante Sektor deutlich: So stieg die Anzahl an Hausarztpraxen in besagten 20 Jahren von 361 auf 1239.

Um die krisenbedingten Gehaltskürzungen und Entlassungen wieder auszugleichen, erhöht der NVD seit 2018 das Entgelt für medizinisches Personal jährlich um 20 Prozent – bis einschließlich 2021 sind diese Zuschläge vorgesehen. Gemeinsam mit der EU betreibt er außerdem ein Programm, mit dem Medizinerinnen und Mediziner für Niederlassungen außerhalb von Riga gewonnen werden sollen. Mit Stand Juli 2019 wurden hierdurch bereits 315 solcher Vorhaben finanziell unterstützt.

Herausforderung öffentliche Gesundheit

Post-sowjetische Staaten hinkten ihren neuen Wirtschaftspartnern nach der Unabhängigkeit oft hinterher. Auch gesundheitlich gesehen waren deren Bürgerinnen und Bürger meist in schlechterer Verfassung – eine Tendenz, die in Lettland bis heute zu spüren ist. So steht das Land bei der Lebenserwartung im EU-Vergleich auf dem vorletzten Platz (75,1 Jahre); nur Bulgarien (75 Jahre) schneidet hier schlechter ab. Besonders drastisch ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern: Lettische Frauen leben im Schnitt fast zehn Jahre länger als ihre männlichen Mitbürger. 1995 wurde Letzteren bei der Geburt sogar nur ein 60 Jahre kurzes Leben prognostiziert.

Verantwortlich hierfür war und ist vor allem die Prävalenz von gesundheitlichen Risikofaktoren wie schlechte Ernährung, Zigaretten- und Alkoholkonsum sowie fehlende sportliche Betätigung. Dadurch traten im Jahr 2016 beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen mehr als doppelt so oft auf wie im EU-Durchschnitt. Besonders davon betroffen sind Menschen mit niedrigerem Bildungsniveau – auch an Krebs erkranken diese überdurchschnittlich oft.

Grafik: KloseDetering

Die im 21. Jahrhundert beobachtete Umstrukturierung des lettischen Gesundheitswesens macht also nur Sinn, wenn sie neben Wirtschaftswachstum auch von entsprechenden Maßnahmen zur öffentlichen Gesundheit, Prävention und Aufklärung begleitet wird. Dies erkannte nach der Finanzkrise auch das Gesundheitsministerium: 2012 gründete man eine nationale Seuchenschutzbehörde, die die Kompetenzen und Aufgaben von neun Vorgängerinstitutionen bündelt. Seitdem hat diese sich die Angleichung der gesundheitlichen Kennzahlen an den EU-Durchschnitt auf die Fahnen geschrieben. Auch wenn erste Erfolge erkennbar sind, ist es bis dahin noch ein langer Weg – auf den jüngst das Corona-Virus erhebliche Steine warf.

 

Hendrik Schmitz

(Dieser Artikel erschien ursprünglich im Dezember 2020. Er wurde aktualisiert und in leicht abgeänderter Form online gestellt.)

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