15.02.2023

Gesundheit anderswo

Indien – zwischen Elend und Medizintourismus

Das Titelbild zeigt die Nationalflagge Indiens von dem Panorama eines Flusses, der durch eine Stadt läuft.
Das wirtschaftlich unterentwickelte Indien muss die Gesundheitsversorgung von 1,4 Milliarden Menschen stemmen. Foto: Adobe Stock / deepti bhatt/EyeEm

Indien ist geprägt von Extremen: Das riesige Land hat ein eigenes Raumfahrtprogramm, gleichzeitig leiden Millionen Menschen an Krankheiten wie Cholera oder Tuberkulose. Wie funktioniert die Gesundheitsversorgung in einem Land, in dem weltweit die meisten Menschen in Armut leben?

Indien ist mit 3,3 Millionen Quadratkilometern das siebtgrößte Land der Erde. Die 28 Bundesstaaten beheimaten etwa 1,4 Milliarden Menschen. Die ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt des Subkontinentes ist mit der Europas vergleichbar. Trotz der sehr großen Bevölkerung liegt das indische Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei „nur“ 2,6 Billionen US-Dollar, das viel kleinere Deutschland erwirtschaftet ein BIP von 3,8 Billionen Dollar. Indien erfreute sich in den vergangenen Jahren eines stetigen Wirtschaftswachstums. Ökonomen rechnen damit, dass das Land bis zur Mitte des Jahrhunderts zur weltweit drittgrößten Volkswirtschaft aufsteigt. Dennoch leben nach Angaben der Weltbank zehn Prozent der Inderinnen und Inder in extremer Armut.
 

Gesundheit und Armut

Das indische Gesundheitssystem ist mit anderen Herausforderungen konfrontiert als das deutsche. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung lag in Indien im Jahr 2020 bei 28,7 Jahren, in Deutschland waren es 47,8 Jahre. Die Lebenserwartung indischer Neugeborener lag 2020 bei 69,9 Jahren, im selben Jahr geborene Deutsche können mit knapp 81 Lebensjahren rechnen. In ärmeren indischen Bevölkerungsschichten sind Unter- und Mangelernährung verbreitete Phänomene. Gerade in den Elendsvierteln der großen Städte grassieren Krankheiten wie Tuberkulose, Cholera und Malaria, die in Deutschland praktisch keine Rolle spielen. Außerdem kämpft Indien mit einem starken Stadt-Land-Gefälle. In abgelegenen Regionen ist die Gesundheitsversorgung oft unzureichend.

Das Foto zeigt die indische Stadt Mumbai. Im Bildvordergrund sehen wir die Slums, im Hintergrund die Skyline aus modernen Wolkenkratzern.
Wolkenkratzer und Slums in Mumbai. Trotz des starken Wirtschaftswachstums leben viele Inderinnen und Inder in großer Armut. Foto: Adobe Stock / Dmitry Rukhlenko

Niedrige öffentliche Gesundheitsausgaben

Laut indischer Verfassung gehört die Bereitstellung der medizinischen Versorgung zu den Aufgaben des Staates. Indien hat daher ein öffentliches Gesundheitssystem, das aus den Mitteln der Zentralregierung und der Bundesstaaten finanziert wird und allen Bürgerinnen und Bürgern eine grundlegende Gesundheitsversorgung bieten soll. Die öffentlichen Gesundheitsausgaben beliefen sich im Jahr 2019 auf drei Prozent des indischen Bruttoinlandsproduktes, pro Kopf waren das 63,7 US-Dollar. Deutschland investierte im selben Jahr 11,9 Prozent des BIP ins Gesundheitswesen, 4.944 Euro pro Kopf. Das öffentliche Gesundheitssystem Indiens gilt als chronisch unterfinanziert. Zwar können sich alle Inderinnen und Inder kostenlos in den staatlichen Gesundheitseinrichtungen behandeln lassen, doch die Versorgungsqualität ist meist schlecht und die Wartezeiten sind lang. Es gibt mehrere staatlich geförderte Krankenversicherungen, die für Medikamente und Behandlungen in privatwirtschaftlichen medizinischen Einrichtungen aufkommen sollen. Hinzu kommt eine Vielzahl privater Versicherungen. Trotzdem waren 2018 weniger als 40 Prozent der indischen Bevölkerung krankenversichert. 

Premierminister Narendra Modi bei der Vorstellung der PMJAY Krankenversicherung im Jahr 2018. Foto: Imago / Parwaz Khan/Hindustan

PMJAY – Eine Krankenversicherung für 500 Millionen Menschen 

Im Jahr 2018 begann die indische Regierung mit der „Pradhan Mantri Jan Arogya Yojana“ (PMJAY), einer Gesundheitsreform mit dem ambitionierten Ziel, 500 Millionen Menschen eine Krankenversicherung zu ermöglichen. Seither wird das neue System langsam über den ganzen Subkontinent ausgeweitet. Jede über PMJAY versicherte Familie kann Gesundheitsdienstleistungen im Wert von bis zu 500.000 Rupien (ca. 5.700 Euro) in Anspruch nehmen. Auch Behandlungen in privaten Gesundheitseinrichtungen sind abgedeckt. Jede Familie kann beliebig viele Mitglieder in ihre Versicherung einschreiben. Anspruchsberechtigte Personen zahlen keine Beiträge, die Versicherungssumme wird anteilig von der Zentralregierung und den Bundesstaaten getragen. Die neue Versicherung soll vor allem armen und benachteiligten Menschen, wie Mädchen oder Senioren, zugutekommen. Die Bundesrepublik Deutschland berät und unterstützt Indien bei diesem Vorhaben und beteiligt sich auch an der Ausbildung des benötigten Personals. Schon im Jahr 2008 führte Indien die „Rashtriya Swasthya Bima Yojana“ (RSBY) ein, eine Krankenversicherung für 134 Millionen Menschen. Auch RSBY war für die Versicherten kostenlos und richtete sich gezielt an arme Familien, die mit bis zu 30.000 indischen Rupien (ca. 340 Euro) im Jahr unterstützt wurden. 

Das All India Institute Of Medical Science college and hospital (AIIMS) in Neu-Delhi. Foto: Adobe Stock / mrinal

Kostenfreie Behandlungsmöglichkeiten 

Die öffentlichen und für alle indischen Staatsbürgerinnen und -bürger (auch die ohne Krankenversicherung) zugänglichen Gesundheitseinrichtungen kämpfen mit Personalmangel und schlechter Ausstattung. In ländlichen Regionen sind die staatlichen Angebote oft kaum für die Menschen erreichbar, viele Einrichtungen sind extrem überfüllt. Das „All India Institute of Medical Sciences“ (AIIMS) in Neu-Delhi gilt als größtes staatliches Krankenhaus Indiens. Bürgerinnen und Bürger können sich hier kostenfrei behandeln lassen und müssen unter Umständen nur ihre Medikamente selbst bezahlen. Die Klinik hat 2.500 Betten, doch täglich kommen zwischen 13.000 und 14.000 Patientinnen und Patienten, viele von ihnen haben eine tagelange Reise für die Behandlung auf sich genommen. Zahlreiche kranke Menschen campieren auf den Straßen vor der Klinik und warten tagelang auf Einlass und Behandlung. Das Personal im AIIMS und in ähnlichen Kliniken arbeitet an der Überlastungsgrenze, die Unterbringung der Behandelten und die Qualität der Versorgung sind schlecht.
 

Privatmedizin als einzige Option

Aufgrund der mangelhaften staatlichen Versorgung hat Indien einen sehr großen privaten medizinischen Sektor. Das indische Gesundheitswesen gilt als eines der am stärksten privatisierten Gesundheitssysteme der Welt. 2013 waren 58 Prozent der Krankenhäuser und 29 Prozent der Krankenhausbetten in der Hand privater Unternehmen. Außerdem beschäftigte der private Sektor 81 Prozent der Ärzte. Private Behandlungsangebote werden bevorzugt von der Mittel- und Oberschicht genutzt. Weil die Zustände in den staatlichen Einrichtungen meist schlecht sind, müssen aber auch ärmere Menschen oft auf die kommerziellen Gesundheitsdienstleister zurückgreifen. Da viele Inderinnen und Inder noch nicht oder nur unzureichend krankenversichert sind, treiben kostenintensive Behandlungen immer wieder Menschen in den finanziellen Ruin.
 

Kaum Regularien

Das private Gesundheitswesen ist kaum gesetzlich reguliert. Für indische Ärztinnen und Ärzte gibt es daher eine Vielzahl an Betätigungsmöglichkeiten, die sich oft nicht eindeutig kategorisieren lassen. Einige betreiben kleine Praxen, andere sind in größeren medizinischen Zentren oder in privaten Kliniken beschäftigt. Klar regulierte Strukturen, die mit der niedergelassenen Ärzteschaft in Deutschland vergleichbar wären, fehlen. In den vergangenen Jahren nahm die Zahl kleiner Praxen stetig ab, medizinische Zentren mit mehr als zehn Beschäftigten spielen eine immer größere Rolle. Große Klinikbetreiber kaufen regelmäßig kleine Einrichtungen auf oder werben ihr Personal ab. Die fehlenden Standards und Regularien sorgen immer wieder für Skandale oder zweifelhafte Angebote.
 

Grafik: KloseDetering, Freepik

Medizintourismus als wichtiger Wirtschaftszweig

Vor allem in den großen Städten gibt es private medizinische Einrichtungen, die zahlungskräftigen Patientinnen und Patienten eine erstklassige medizinische Versorgung anbieten und den Praxen und Krankenhäusern in Europa in nichts nachstehen. Die Preise sind für die meisten Inderinnen und Inder unerschwinglich, für Menschen aus den Industriestaaten aber ein lukratives Angebot. Eine Hüfttransplantation schlägt beispielsweise in den USA mit etwa 50.000 Dollar zu Buche, in Indien sind es etwa 7.000 Dollar. Eine Bypass-Operation kostet in den Vereinigten Staaten oft mehr als 100.000 Dollar, in Indien ist der Eingriff für etwa 5.000 Dollar zu haben. Der Subkontinent erlebt daher einen Boom des Medizintourismus. Viele Krankenhäuser werben mit im Westen ausgebildetem Personal und internationalen Zertifikaten. Einige Kliniken sind wie Fünf-Sterne-Hotels eingerichtet und kooperieren mit Unternehmen aus der Tourismusbranche. Viele europäische Paare kommen nach Indien, um sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Künstliche Befruchtungen werden zu sehr niedrigen Preisen angeboten. Bis zum Verbot im Jahr 2019 waren Leihmutterschaften eine gefragte Dienstleistung. Auch kosmetische Eingriffe sind bei ausländischen Patientinnen und Patienten populär. 

Große Fortschritte seit der Unabhängigkeit

Die erwähnten Probleme dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das indische Gesundheitswesen seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1947 beachtliche Fortschritte gemacht hat. Damals lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei nur 32 Jahren, inzwischen können indische Neugeborene mit etwa 70 Lebensjahren rechnen, Tendenz weiter steigend. In den vergangenen Jahren ging die Kindersterblichkeit auf dem Subkontinent deutlich zurück. 1960 starben 243 von 1.000 neugeborenen Kindern noch vor dem fünften Lebensjahr, 2020 waren es nur noch 33. In Deutschland waren es im selben Jahr vier. Auch die Müttersterblichkeit ging erheblich zurück. 

Kampf gegen Infektionskrankheiten

Auch bei den Infektionskrankheiten wurden große Erfolge erzielt. 1947 gab es laut Schätzungen etwa 75 Millionen Malariafälle in Indien, in dem damals etwa 330 Millionen Menschen lebten. Heute ist Malaria noch immer ein Problem, etwa 90 Prozent der Inderinnen und Inder leben in Regionen, in denen die Krankheit endemisch ist, doch die Zahl der jährlichen Infektionen wird nur noch auf etwa vier Millionen geschätzt. Bis 2030 soll der Subkontinent malariafrei werden. Polio stellte einst ein großes Problem dar, noch in den 1990ern erkrankten zwischen 500 und 1.000 Menschen pro Tag an Kinderlähmung. Der letzte Polio-Fall in Indien wurde 2011 erfasst, seit 2014 gilt das Land offiziell als poliofrei. Im Kampf gegen Krankheiten wie HIV, Lepra und Tuberkulose konnten ähnliche Erfolge verbucht werden. 

Eine Frau wird auf Covid-19 getestet. Foto: Adobe Stock / Media Nation/Wirestock

Ausgangssperre und Durchseuchung

Indien wurde schwer von der Covid-19-Pandemie getroffen. Anfangs reagierte die Regierung mit einem harten Lockdown und Ausgangssperren. Die Folgen waren dramatisch: Millionen Menschen verloren ihre Arbeitsplätze oder saßen an für sie fremden Orten fest. Ab Mai 2020 lockerte die Regierung die Maßnahmen und versuchte, die entstandene Not mit einem Hilfsprogramm zu lindern. Im Anschluss wurde auf einschneidende Maßnahmen verzichtet. Bis September 2020 hatten sich nach offiziellen Angaben etwa zehn Millionen Menschen infiziert, 150.000 waren verstorben. Im Januar 2021 verkündete Premierminister Narendra Modi, das Land habe das Virus unter Kontrolle und wolle die Welt mit in Indien produzierten Impfstoffen unterstützen. 

Millionen Coronatote befürchtet 

Im April und Mai 2021 sorgte die Delta-Variante, die in deutschen Medien auch als „indische Mutante“ bezeichnet wurde, für eine Explosion der Infektionszahlen. Die Regierung und die Bevölkerung nahmen das Virus zu diesem Zeitpunkt kaum noch ernst und gingen davon aus, in der ersten Welle Herdenimmunität erreicht zu haben. Es fanden religiöse Feste, Sportturniere und andere Massenveranstaltungen statt. Das unterentwickelte Gesundheitssystem konnte der Belastung nicht standhalten. Die Bilder von überfüllten Kliniken und leeren Sauerstoffflaschen gingen um die Welt. Indien reagierte mit einem großangelegten Impfprogramm und verbot die Ausfuhr von im Land produzierten Vakzinen. Impfungen und Infektionen sorgten dafür, dass bis Juli 2021 zwei Drittel der Inderinnen und Inder eine Form der Immunität entwickelt hatten. Infektionswellen mit zahlreichen Todesfällen bleiben seither aus. Laut offizieller Statistik verzeichnet das Land im August 2022 44,3 Millionen Infektionen und 527.000 Todesfälle. Aufgrund der mangelhaften Infrastruktur wird jedoch von einer erheblichen Dunkelziffer ausgegangen. Analysen der Übersterblichkeit legen nahe, dass die tatsächlichen Todeszahlen etwa vier- bis zehnmal höher sind als die offiziellen Angaben. Es ist also von mehreren Millionen Todesfällen auszugehen. 

Viele Menschen in Indien sind unter- oder mangelernährt, haben kaum Zugang zu medizinischer Versorgung und leiden an vermeidbaren Krankheiten wie Tuberkulose. Gleichzeitig gibt es Praxen und Kliniken mit exzellentem medizinischem Personal und modernster Ausstattung, die auch für Patientinnen und Patienten aus dem Westen attraktiv sind. Trotz aller Probleme hat sich die gesundheitliche Lage seit der Unabhängigkeit des Landes stetig gebessert, die Lebenserwartung ist deutlich gestiegen und Krankheiten wie Polio konnten ausgerottet werden. Die PMJAY Reform ermöglicht vielen armen Menschen erstmals eine Krankenversicherung. In den kommenden Jahren wird Indien die Volksrepublik China als einwohnerreichstes Land der Welt ablösen. Für den südasiatischen Riesen bleibt es also eine Herkulesaufgabe, allen Menschen eine gute Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. 

Lukas Brockfeld 

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