05.09.2022

GKV-Finanzstabilisierungsgesetz

Große Sorge um die Versorgung

Das Foto zeigt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will eine gesetzliche Regelung kippen, für die er sich vor nicht allzu langer Zeit noch starkgemacht hat. Foto: IMAGO / Jürgen Heinrich

Zuweilen sind Dinge gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Um das Rekord-Defizit der gesetzlichen Krankenkassen von mindestens 17 Milliarden Euro oder mehr auszugleichen, braucht es beispielsweise viel guten Willen. Der vom Bundeskabinett abgesegnete Entwurf eines GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes sorgt reihum für wenig Verständnis.

Klar ist: Die Sparpläne von Bundesgesundheitsminister Professor Karl Lauterbach bedrohen die hochwertige ambulante Versorgung der Patientinnen und Patienten. Der SPD-Politiker plant, dass die mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) eingeführte Neupatientenregelung gekippt und die Leistungen der sogenannten offenen Sprechstunde einer unbefristeten Bereinigung unterliegen sollen. Die Konsequenz, dass dieser Vorstoß zulasten von Patientinnen und Patienten geht, nimmt er offensichtlich in Kauf.

Bei den gesetzlichen Krankenkassen fehlen Milliarden Euro: Ein Stabilisierungsgesetz soll die Finanzlage wieder ein wenig konsolidieren – unter anderem auf Kosten der Neupatientenregelung. Foto: Adobe Stock / MQ-Illustrations

„Karl Lauterbach will die Versorgung der Bürger einschränken“, sagt der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. Andreas Gassen. „Dieses Gesetz ist ein Schlag ins Gesicht der Patientinnen und Patienten in Deutschland. Und das müssen wir den Menschen auch so sagen.“ Mit diesem Gesetz konterkariere der Minister den Koalitionsvertrag, nachdem die ambulante Versorgung gestärkt werden sollte. Gassen: „Nun wird es so sein, dass die Kolleginnen und Kollegen gar nicht mehr anders können als das Terminangebot zurückzufahren.“

Protest von Ärztinnen und Ärzten

Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV
Für KBV-Chef Dr. Andreas Gassen ist der Gesetzentwurf „ein fatales Signal für die ambulante Versorgung“. Foto: KBV / Hendrik Schmitz

Zum Wohl ihrer Patientinnen und Patienten wehren sich Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in ganz Deutschland gegen das Vorhaben. In einem offenen Brief, initiiert von KBV und Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen), haben sich bislang rund 47.000 Niedergelassene gegen Lauterbachs Pläne ausgesprochen. „Mit großer Sorge um die Versorgung unserer Patientinnen und Patienten wenden wir uns heute an Sie“, heißt es in dem Schreiben. „Für uns steht die optimale Versorgung der Patientinnen und Patienten tagtäglich im Vordergrund.“ Aber seit Jahren stecke man in der ambulanten Versorgung in einer schwierigen Situation fest. Es werde immer schwerer, Kolleginnen und Kollegen für die ambulante Versorgung zu finden. Gleiches gelte für das Praxispersonal.

 

Unterstützung der Fachverbände

Im Folgenden stellt der Brief die Kalamitäten dar, die es den Niedergelassenen und ihren Praxisteams tagtäglich unnötig erschweren, sich um ihre Patientinnen und Patienten zu kümmern. Zudem legt er offen, wie bedeutsam das erweiterte Termin- und Sprechstundenangebot infolge des TSVG für die Versorgung ist. Unterstützung gibt es von deutschen Ärzteverbänden. Der Spitzenverband der Fachärzte Deutschlands (SpiFa) warnt etwa vor einer erheblichen Leistungskürzung für GKV-Patienten und einer damit einhergehenden Verschlechterung der Versorgung durch die Rücknahme der Neupatientenregelung.

KBV-Vize Dr. Stephan Hofmeister warnt vor den Folgen, falls die Neupatientenregelung gekippt würde. Foto: KBV / Hendrik Schmitz

Was bedeutet das konkret für die Patientinnen und Patienten? „Längere Wartezeiten, wesentlich schwerer zu findende Arzttermine“, so Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender KBV-Vorstandsvorsitzender. „Es wird einfach so sein, dass die Praxen diese Leistungen auf Dauer überhaupt nicht mehr erbringen können. Zumal auch dieses Geld fehlt, um Personal anständig bezahlen zu können und neues Personal zu finden. Auch das ist ja ein großes Problem, qualifiziertes Personal zu finden und zu halten. Und das insbesondere, wenn natürlich jetzt auch noch die Umsätze gekürzt werden.“

Skepsis in der Koalition

Auch innerhalb der Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP gibt es offenbar Bedenken. Zum Beispiel erklärte der gesundheitspolitische Sprecher der FDP, Professor Andrew Ullman, im „Tagesspiegel Background“: „Wir sehen sehr vieles weiter kritisch und werden das als Fraktion in die Verhandlungen entsprechend einbringen.“ So gebe es im geplanten Gesetz eine Ungleichverteilung zulasten der Leistungserbringer, wie zum Beispiel der forschenden Pharmaindustrie, der Ärzteschaft sowie der Apotheken. „Hier muss nachjustiert werden.“ Noch mehr Gegenwind gibt es aus der Opposition. Tino Sorge (CDU), gesundheitspolitischer Sprecher der Union, sagte mit Blick auf das GKV-Gesetz laut „Welt am Sonntag“, Lauterbach streue den Menschen Sand in die Augen: „Mit Einmalzahlungen und ohne Strukturreformen lässt sich das Finanzloch nicht schließen. Und Pharmafirmen, Ärzte und Apotheker, die in der Pandemie sehr viel geleistet haben, erst zu loben und ihnen jetzt vors Schienbein zu treten – auch das ist keine gute Idee.“

Symbolbild zum GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. Das Foto zeigt eine Kabinettssitzung im Bundeskanzleramt in Berlin.
Kabinettssitzung im Bundeskanzleramt in Berlin: Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf beschlossen, mit dem sie die Finanzen der gesetzlichen Krankenkassen im kommenden Jahr stabilisieren will. Foto: IMAGO / Political-Moments


Zi-Daten versus Minister

Gesundheitsminister Lauterbach behauptet, die Neupatientenregelung habe nichts gebracht. „Das stimmt einfach nicht“, hält KBV-Vize Hofmeister dagegen. Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) habe nachgewiesen, dass mehr als jeder vierte gesetzlich versicherte Patient von der Regelung begünstigt wurde. Hofmeister: „Im vierten Quartal 2021 wurden in den Praxen 20 Millionen Neupatienten behandelt. Zudem haben 99 Prozent aller Praxen Neupatienten behandelt. Damit ist nun auch die offene Sprechstunde eigentlich ,totʻ.“

Im Wartezimmer einer Arztpraxis: Die Lauterbach-Pläne machen es künftig schwieriger, einen Termin zu bekommen. Foto: iStock / monkeybusinessimages

Abrechnungsdaten widerlegen den Sozialdemokraten zweifelsfrei. „Unsere Auswertung zeigt, dass im vierten Quartal 2021 mehr Neupatientinnen und -patienten behandelt wurden als im vierten Quartal 2019, obwohl die ärztlichen Behandlungskapazitäten in diesen zwei Jahren eher weniger als mehr geworden sind“, analysiert Zi-Vorstandsvorsitzender Dr. Dominik von Stillfried. „Außerdem haben Neupatientinnen und -patienten gegenüber dem vierten Quartal 2019 mehr zusätzliche Leistungen erhalten als bereits bekannte Patientinnen und Patienten. Genau diese Effekte waren beabsichtigt, als mit dem TSVG im Jahr 2019 die allgemein geltenden Leistungsbegrenzungen für die ärztliche Behandlung von Neupatientinnen und -patienten abgeschafft wurden.“

Lauterbach wollte Neupatientenregelung

Gassen weist darauf hin, dass die Neupatientenregelung den Praxen nicht mehr Geld eingebracht habe, sondern nur, dass der volle Betrag ohne Budgetierung bezahlt worden sei. Lauterbach selbst sei es gewesen, der sich für die Regelung stark gemacht habe. „Es ist ein fatales Signal, dass wir uns auf den politisch gesetzten Rahmen nicht mehr verlassen können. Die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen haben unter größten Mühen ihren Praxisbetrieb umorganisiert und neue Termine geschaffen. Nun wird das mit einem Federstrich wieder zunichtegemacht. Dieser Vertrauensbruch seitens der Politik wird noch lange nachwirken“, konstatiert der KBV-Chef.

Im Textarchiv des Deutschen Bundestags ist nachzulesen, dass der heutige Bundesgesundheitsminister seinerzeit als Abgeordneter innerhalb der schwarz-roten Regierungskoalition für die Neupatientenregelung plädiert hat: „Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD) wertete das neue Gesetz als einen Schritt weg von der Zweiklassenmedizin. Gesetzlich versicherte Patienten müssten derzeit teilweise monatelang auf einen Arzttermin warten. Das sei unwürdig für ein so reiches Land wie Deutschland. Die außerbudgetären Vergütungen für Ärzte seien sinnvoll, da gerade neue Patienten viel Arbeit machten und mehr Zeit in Anspruch nähmen. Wenn eine unterbezahlte Leistung besser bezahlt werde, sei das richtig, zumal Patienten, wenn sie derzeit keine Ärzte fänden, zur Behandlung in die Kliniken auswichen.“

Versorgung nicht kaputtsparen

KBV-Vize Hofmeister appelliert an den Minister, sein Vorhaben zu stoppen: „Sparen im ambulanten Gesundheitswesen ist das falsche Ende. Das ist die preiswerteste Versorgung. Sie hat sich als ausgesprochen belastbar und flexibel erwiesen. Seit Jahren und Jahrzehnten sind die Niedergelassenen mit einer Budgetierung von inzwischen sicher fast mindestens zweistelligen Milliardenbeträgen mit dabei, an nicht ausgezahltem Honorar, was uns eigentlich laut EBM zustünde, laut Gebührenordnung. Insofern tragen die Kolleginnen und Kollegen bereits seit vielen Jahren und Jahrzehnten ihren Teil zum Erhalt des Gesundheitswesens bei.“ Und laut Hofmeister gibt es genügend andere Möglichkeiten, an denen viel stärker gespart werden könnte.

Die Stellungnahme der KBV zum Referentenentwurf des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes finden Sie hier.

„Ich erwähne hier zum Beispiel die Bürgertests, die noch fast mit einer Milliarde im Monat zu Buche schlagen. Ich erwähne zum Beispiel versicherungsfremde Leistungen, die die gesetzlichen Krankenkassen finanzieren müssen. Es ist sicher noch eine ganze Menge vorher zu richten, bevor man das ambulante Gesundheitswesen kaputtspart.“

Thomas Schmitt

 

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