26.04.2024

„Wir sind für Sie nah.“

Emotionale Kampagne rückt schwierige Lage der Praxen ins Blickfeld

Foto von einer Bushaltestelle in einer belebenden Innenstadt - Menschen gehen und fahren an der Haltestelle vorbei - mit einem Citylight Poster von der neuen KBV Kampagne.
Die Kampagne startete mit einer Pressekonferenz und TV-Spots in den öffentlich-rechtlichen Sendern. Ergänzend dazu sind bundesweit Plakate mit „echten" Ärztinnen und Ärzten zu sehen. Foto: KBV

Die Menschen in Deutschland sind in Sorge: Wie lange gibt es die Hausarztpraxis um die Ecke noch? Was passiert, wenn die Hals-Nasen-Ohren-Ärztin im Nachbarort in den Ruhestand geht? Die Lage der Niedergelassenen ist äußerst schwierig. Mit der emotionalen Kampagne „Wir sind für Sie nah.“ machen die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) daher auf den Wert der ambulanten ärztlichen und psychotherapeutischen Versorgung aufmerksam.

 

Nähe und Verlässlichkeit zeichnet die Arbeit der über 187.000 Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten aus, die hierzulande in Praxen tätig sind. Klaus-Peter Schaps ist einer von ihnen. 2004 hat sich der Facharzt für Innere Medizin in Wilhelmshaven-Voslapp niedergelassen. Der Hausarzt aus dem Norden ist stets für seine Patientinnen und Patienten da. Er kennt ihre Alltagssorgen. Schaps kennt aber auch die Probleme, mit denen er und seine Kolleginnen und Kollegen tagtäglich zu kämpfen haben: „Ich habe Medizin studiert, um mit den Menschen zu arbeiten und nicht, um mich um Bürokratie zu kümmern und Formulare auszufüllen.“

Ein Fall für den Arzt

Solche Aussagen begegnen dem KBV-Vorstandsvorsitzenden Dr. Andreas Gassen im Austausch mit den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen ständig. Immer wieder thematisiert er die Probleme der Vertragsärzteschaft in Gesprächen und Diskussionen mit politisch Verantwortlichen. „Die Gesundheitsversorgung in Deutschland droht, selbst ein Fall für den Arzt zu werden“, warnt der KBV-Chef. Sie leide an Unterfinanzierung, politischer Überregulierung, zu viel Bürokratie, akutem Personalmangel, fehlendem Nachwuchs sowie einer immer noch in großen Teilen dysfunktionalen Digitalisierung.

„Oftmals habe ich nur vier oder fünf Minuten für meine Patientinnen und Patienten, und das ist für viele Anliegen einfach nicht genug."

Dr. Oskar Kuhnert, Hausarzt aus Eutin

Es sind genau diese Schwierigkeiten, die Schaps in seiner täglichen Arbeit bremsen: „Jeden Tag aufs Neue schlage ich mich mit nicht funktionierenden Digitalisierungsmaßnahmen herum.“ Dabei steht für ihn die Nähe zu den Menschen, die seine Praxis aufsuchen, im Vordergrund. „Ich wünsche mir, dass sich Ärztinnen und Ärzte wieder auf ihre Arbeit mit den Patientinnen und Patienten konzentrieren können“, sagt Schaps.

Fünf Personen, drei Männer und zwei Frauen, stehen nebeneinander vor einem Großformat Poster von der KBV Kampagne
Kampagnenauftakt in Berlin: Die Gynäkologin Nicole Mattern (Mitte) und Hausarzt Klaus-Peter Schaps (2. v. l.) standen als Testimonials zur Verfügung - hier umrahmt von den KBV-Vorständen Dr. Andreas Gassen (l.), Dr. Sibylle Steiner und Dr. Stephan Hofmeister. Foto: KBV/Amin Akhtar

Vertrauen und Nähe zum Arzt

„Die Nähe zum Arzt oder zur Ärztin ihres Vertrauens ist den Menschen wichtig“, erklärt Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KBV. „Leider reagiert die aktuelle Gesundheitspolitik nicht auf diesen Bedarf und sorgt nicht dafür, dass diese Nähe auch in Zukunft erhalten bleiben kann. Im Gegenteil.“ Schon jetzt seien in vielen Regionen Deutschlands mindestens ein Drittel der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten 60 Jahre alt oder älter. Die Ruhestandswelle der sogenannten Babyboomer-Generation stehe auch hier bevor.

„Die Dynamik dieser Entwicklung nimmt zu, die Anzahl der bald aus der Versorgung ausscheidenden Ärzte und Psychotherapeuten wächst stetig“, so Hofmeister. Der KBV-Vize verweist auf eine weitere alarmierende Zahl: „Ende 2023 hatten wir allein bei den Hausärzten 5.000 nicht besetzte Praxissitze. Das ist eine Steigerung um fünf Prozent gegenüber dem Vorjahr.“

„Was mich stört ist die Bürokratie, die Dokumentationsanforderungen und -pflichten. Das ist Arbeit ohne den Patienten und dafür bin ich nicht Arzt geworden.“

Dr. Panos Bouliopoulos, Orthopäde aus München

Neben Plakaten mit „echten" Ärztinnen und Ärzte unterstützen Werbemaßnahmen in den Sozialen Medien, politischen Podcasts und Newslettern die Kampagne. Foto: KBV

Arztpraxis vor Ort wichtig

Während den politisch Verantwortlichen der Ernst der Lage nicht bewusst zu sein scheint oder sie von ihnen ignoriert wird, ist der breiten Bevölkerung sehr bewusst, was auf dem Spiel steht. Wie wichtig die Arztpraxis vor Ort beziehungsweise ums Eck ist, zeigt eine Civey-Umfrage unter 5.000 Befragten:

 

  • 89 Prozent der Bürgerinnen und Bürger geben an, dass ihnen das Thema ambulante ärztliche Versorgung wichtig ist.

  • Knapp über 50 Prozent der Befragten befürchtet, dass ihre Arztpraxen in naher Zukunft schließen.

  • Über 62 Prozent stimmen der Aussage zu, dass sich Arztpraxen aktuell in einer Notlage befinden.

  • 72 Prozent der Patientinnen und Patienten sagen, ihre Ärztinnen und Ärzte sind Vertrauenspersonen für sie.

  • Über 86 Prozent der Befragten ist die Nähe zum Wohnort bei der Wahl einer Ärztin oder eines Arztes wichtig.

  • 51 Prozent der Patientinnen und Patienten finden das Thema ärztliche Versorgung wichtig für ihre Wahlentscheidung.

Zwei Anzeigen-Motive aus der KBV Kampagne "Wir sind für sie nah."
Zwei Motive der multimedialen Kampagne "Wir sind für Sie nah." Fotos: KBV

Multimediale Kampagne von KBV und KVen

Mit der multimedialen Kampagne „Wir sind für Sie nah.“ vergegenwärtigen die KBV und die KVen die heikle Situation in der ambulanten Versorgung in Deutschland. Mit TV-Spots in den öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern. Mit Plakaten, auf denen „echte“ Ärztinnen und Ärzte sowie eine „echte“ Psychotherapeutin zu sehen sind. Mit Werbemaßnahmen in den Sozialen Medien, politischen Podcasts und Newslettern. Die Website rettet-die-praxen.de rundet die Kampagne ab. Hier finden sich begleitende Informationen zur Kampagne sowie Interviews mit den sieben Ärztinnen und Ärzte sowie der Psychotherapeutin, die auf den Motiven zu sehen sind.

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„Wir wollen die Politik auf allen Ebenen, ob in der Gemeinde oder im Bund, aufrütteln“, erklärt KBV-Vorständin Dr. Sibylle Steiner. Denn eines sei klar: „Es gibt nichts Nachhaltigeres für die Sicherstellung der Versorgung als einen niedergelassenen Vertragsarzt!“ Er oder sie investiere in der Region und plane langfristig, oft für 30 Jahre und länger. Die Rahmenbedingungen müssten sich aber entscheidend verändern, wenn die Niederlassung auch für die nachfolgende Generation eine erstrebenswerte berufliche Option bleiben soll. Steiner: „Denn unter den aktuellen politischen Gegebenheiten werden sich immer weniger junge Ärzte für die eigene Praxis entscheiden. Damit bricht das Fundament der medizinischen Versorgung in diesem Land weg – langsam, aber stetig.“

Thomas Schmitt