Hintergrund
15.09.2021
Europa in den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl 2021
In den Programmen der Parteien zur Bundestagswahl 2021 finden sich zahlreiche Aussagen zur Europäischen Union (EU). Dabei spielt in Zeiten der Pandemie auch die Gesundheitspolitik eine wichtige Rolle. Welche Vorstellungen vertreten die Parteien dazu? Und welche konkreten Schritte sind auf europäischer Ebene bereits getan?
Schon vor Covid-19 bemühte sich die EU im Rahmen ihrer Zuständigkeit um eine harmonisierte Gesundheitspolitik. Die Pandemie hat einiges beschleunigt und ein gemeinsames Handeln forciert. Zu den wichtigsten Ergebnissen gehören die EU-Pharmastrategie, die derzeit abgestimmt wird, und die geplante Europäische Gesundheitsunion.
Die Pharmastrategie behandelt unter anderem die Frage der Lieferengpässe von Arzneimitteln, die Entwicklung und Produktion neuer Medikamente und Impfstoffe sowie die Vermeidung von Antibiotikaresistenzen. Mit der Gesundheitsunion soll die Gesundheitspolitik der Mitgliedsstaaten besser koordiniert werden, um effizienter auf Gesundheitskrisen reagieren zu können.
All diese Themen finden sich auch im deutschen Wahlkampf wieder. Im Folgenden eine Gegenüberstellung der Aussagen der derzeit im Bundestag vertretenen Parteien mit den auf EU-Ebene geplanten Maßnahmen (Nicht alle Parteien machen in ihren Programmen Angaben zu den nachfolgenden Punkten – in diesem Fall sind nur die nebeneinander vergleichbar, die eine Aussage zum jeweiligen Thema machen):
Produktion von Arzneimitteln & Co.
Die EU-Kommission hat Ende 2020 ihre Pharmastrategie beschlossen, in der viele der von den Parteien genannten Themen aufgegriffen werden. So sollen zahlreiche schon bestehende Rechtsvorschriften überarbeitet und geschärft sowie neue Gesetzgebungen vorgeschlagen werden. Zu den etwa 30 konkreten Vorgaben gehören beispielsweise Maßnahmen, die Lieferengpässen von Arzneimitteln entgegenwirken sollen:
- Verbesserte Bedingungen für Ausschreibungen
- Optimierung des Systems der ergänzenden Schutzzertifikate
- Überarbeitung des Anreizsystems zur Entwicklung und Produktion von Arzneimitteln
- Unterstützung von öffentlich-privaten und öffentlich-öffentlichen Partnerschaften
Die Pharmastrategie der Kommission ist in diesem Dokument detailliert nachzulesen.
Der in der öffentlichen Diskussion immer wieder auftauchende Wunsch nach dem „Zurückholen“ der pharmazeutischen Produktion in die EU ist auch wesentliche Forderung des Initiativberichts, den das Europäische Parlament im Juli 2020 verabschiedet hat.
Bisher wurden von der Kommission und dem Rat diese Vorschläge mit Verweis auf die Komplexität des Themas kaum aufgegriffen. Stattdessen treffen sich beispielsweise die wichtigsten Akteure aus Forschung und Industrie mit der EU-Spitze und dem Rat. In diesem regelmäßigen Gesprächsformat wird beraten, wie die europäischen Pharmastandorte am sinnvollsten gestärkt werden können.
Was die Forderung betrifft, dass die EU eine eigene Impfstoffproduktion in öffentlicher Hand aufbauen solle, so findet der Gedanke bei Kommission und Rat keine Zustimmung.
Globale Impfstoffverteilung
Die EU-Kommission hat sich der Covax-Initiative der WHO angeschlossen und ist einer der wesentlichen Geldgeber. Darüber hinaus hat die EU regelmäßig Impfstoffdosen an bedürftige Staaten abgegeben, nicht zuletzt auch an die EU-nahen Länder auf dem Westbalkan, im Kaukasus und in Nordafrika.
Siehe auch: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_3845
Der Forderung nach einer Abgabe von Patenten haben Kommission und Rat eine Absage erteilt. Vielmehr unterstützt die EU Entwicklungs- und Schwellenländer, die eine eigene Impfstoffproduktion aufbauen wollen (zum Beispiel Südafrika).
Siehe auch: https://ec.europa.eu/germany/news/20210519-herstellerlaender-impfstoff_de
Verfügbarkeit von Arzneimitteln
Es gibt auf europäischer Ebene die Überlegung, das europäische Vergaberecht so anzupassen, dass beispielsweise die Teilnahmebedingungen bei Generika-Ausschreibungen so gestaltet werden können, dass europäische Produktionsstandorte gestärkt werden. Die Kommission hat dies in ihrer Pharmastrategie berücksichtigt.
Die Forderung nach einer gemeinsamen Beschaffung von medizinischen Gütern wurde nicht zuletzt während der Covid-19-Pandemie laut. Die EU-Kommission kümmerte sich dann auch um die Beschaffung von Schutzausrüstungen, Medizingeräten und vor allem der Covid-19-Impfstoffe. Trotz zunächst starker (und nicht immer fairer) Kritik an der Arbeit der Kommission läuft das System mittlerweile stabil.
Pharmazeutische Innovationen in die Versorgung bringen
Die Diskussion um die „Benannten Stellen“, die die Medizinprodukte-Richtlinie als zentrale nationale Knotenpunkte für das Zulassungsverfahren vorsieht, dauert an. Die Richtlinie ist im Mai 2021 in Kraft getreten, die Einrichtung von Benannten Stellen läuft aber nur schleppend. Jedoch liegt die Verantwortung hier bei den Mitgliedstaaten selbst – die EU hat dabei keine Kompetenzen.
Einen ähnlich langsamen Aufbau von Benannten Stellen wird inzwischen auch für die In-Vitro-Diagnostika-Richtlinie befürchtet, die im Mai 2022 in Kraft treten wird.
Was die Forschungsförderung für Wirkstoffe angeht, greift die geplante Europäische Gesundheitsunion diese Themen ausführlich auf. So wird die Europäische Arzneimittelagentur befähigt, effizientere Zulassungsverfahren einzusetzen und bereits früh in die Entwicklung neuer Arzneimittel einbezogen werden zu können.
Wesentlicher Baustein der Gesundheitsunion ist die Gründung der neuen Agentur Health Emergency Preparedness and Response Authority (HERA). Sie soll bei Gesundheitskrisen die Entwicklung von Medikamenten frühzeitig initiieren.
Der Verordnungsvorschlag soll noch im dritten Quartal 2021 ins parlamentarische Verfahren gebracht werden.
Bereits heute arbeitet der HERA-Inkubator, der speziell für die frühzeitige Reaktion auf Varianten von SARS-CoV-2 zuständig ist.
Außerdem arbeiteten 16 Mitgliedstaaten und fünf assoziierte Länder im VACCELERATE-Netz an der Erprobung von Impfstoffen zusammen.
Darüber hinaus beteiligt sich die EU an den Impfstoffprojekten der WHO und treibt die Reformierung der WHO voran. Erstmals spricht die EU hier mit einer Stimme, was als ein großer Fortschritt gewertet wird.
Abgesehen von der Impfstoffentwicklung enthält die Pharmastrategie der EU-Kommission zahlreiche Maßnahmen zur Forschungsförderung, ebenso auch der Europäische Plan gegen Krebs.
Koordinierung von Krisenmechanismen
Dass die Koordinierung der Gesundheitspolitik in Krisenfall verbessert werden muss, ist in Brüssel bei allen Beteiligten unstrittig. Im Gesetzgebungsvorschlag zur Europäischen Gesundheitsunion werden zahlreiche Vorgaben gemacht, um die Gesundheitssysteme der Mitgliedsstaaten besser auf Gesundheitskrisen vorzubereiten und die Zusammenarbeit effektiver zu machen.
Im Mittelpunkt steht die Kompetenzerweiterung für die EMA und das ECDC. Auch der bessere und schnellere Datenaustausch spielt dabei eine wesentliche Rolle.
Vorhandene EU-Behörden stärken
Eine der Folgen der Pandemie ist die Reform der bestehenden EU-Behörden EMA (Europäische Arzneimittelagentur) und ECDC (Europäisches Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten). Sie werden mit den Gesetzgebungsvorschlägen der Europäischen Gesundheitsunion ausdrücklich gestärkt – sowohl personell und finanziell als auch durch Kompetenzerweiterungen.
AfD
Im Wahlprogramm der AfD finden sich keine Aussagen zur europäischen Gesundheitspolitik. Vielmehr tritt die Partei für einen Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union und die Gründung einer neuen europäischen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft ein.
Sten Beneke
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