10.05.2023

Im Gespräch

„Bedarfsplanung und Budgetierung sind nicht mehr zeitgemäß“

Das Foto zeigt John Afful, den Vorstandsvorsitzenden der KV Hamburg.
John Afful, Vorstandsvorsitzender der KV Hamburg. Foto: KV Hamburg

1. Was braucht es, um das System der ambulanten Versorgung für die Zukunft zu wappnen?

Das System der ambulanten Versorgung steht vor immensen Herausforderungen. Wir sehen uns auf der einen Seite mit einem aufgrund der demographischen Entwicklung erhöhten Versorgungsbedarf, auf der anderen Seite mit begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen konfrontiert. Dieser Konflikt kann nur gesamtgesellschaftlich bewältigt werden. Ein klares Bekenntnis der Politik zum ambulanten System und entsprechende wohlwollende Rahmenvorgaben wären ein erster Schritt. Stattdessen gewärtigen wir Entscheidungen, die das System destabilisieren und nachhaltig negativ beeinflussen. Die Öffnung des Systems für versorgungsfremde Finanzinvestoren und deren Renditeambitionen hat eine Entwicklung initiiert, deren negative Folgen kaum mehr aufzuhalten sind. Leidtragende sind die Patientinnen und Patienten. Hier muss – soweit dies überhaupt noch möglich ist – dringend gesetzlich gegengesteuert werden.

Gleichzeitig sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen einer vertragsärztlichen Selbstständigkeit durch mangelnde politische Verlässlichkeit so volatil geworden, dass ein Großteil des ärztlichen Nachwuchses den vertragsärztlichen Versorgungsbereich ganz meidet oder lieber angestellt arbeitet, statt den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Ein Mangel an Medizinstudienplätzen kommt hinzu, sodass es immer schwieriger wird, Arztsitze überhaupt nachzubesetzen. Eine solche Entwicklung kommt nicht von ungefähr; sichere, verlässliche und stabile Rahmenbedingungen wären nötig, um sie aufzuhalten oder zumindest abzuschwächen und das bewährte Vertragsarztsystem prinzipiell zu erhalten. Werden entsprechende Voraussetzungen vom Gesetzgeber nicht geschaffen, wird die Versorgung perspektivisch immer stärker drastischen Zentralisierungsprozessen unterworfen sein und von großen MVZ-Konglomeraten erbracht werden. Dies würde zu einem Versorgungsmodell führen, das nicht mehr gemeinwohlgebunden, solidarisch und patientenzentriert, sondern verstärkt an wirtschaftlichem Profitdenken orientiert wäre. Dies muss unbedingt verhindert werden.



2. Welches Thema liegt Ihnen für Ihre KV-Region in den nächsten Jahren besonders am Herzen?

Hamburg ist statistisch gesehen in allen Fachgruppen überversorgt, dennoch bedürfte es dringend zusätzlicher ärztlicher und psychotherapeutischer Kapazitäten, um den Versorgungsanforderungen – auch vor dem Hintergrund einer starken Umlandmitversorgung – gerecht zu werden.

Die KV Hamburg

Die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg vertritt die Interessen der Ärzte- und Psychotherapeutenschaft in der Hansestadt und stellt die ambulante Gesundheitsversorgung der Hamburger Bevölkerung sicher. Ihr Vorstandsvorsitzender ist der Diplom-Volkswirt John Afful, seine Stellvertreterin ist Caroline Roos.

Um dies zu gewährleisten, bedürfte es zweier politischer Initiativen: der Entbudgetierung sowie der Aufhebung (bzw. Anpassung) der Bedarfsplanung. Sowohl die Bedarfsplanung als auch die Budgetierung sind in Zeiten des Ärztemangels nicht mehr zeitgemäß und hemmen die Gewinnung des ärztlichen Nachwuchses für die Niederlassung. In diesem Zusammenhang beobachten wir, dass selbst in Hamburg haus- und kinderärztliche Sitze nicht mehr ohne Weiteres nachbesetzt werden können, was in bestimmten – vor allem sozial schwächeren Stadtteilen – zu Versorgungsengpässen führt. Die wohnortnahe Versorgung in diesen Gebieten sicherzustellen, ist eine unserer wesentlichen Aufgaben.

3. Wie möchten Sie es anpacken?

Die KV Hamburg könnte mit Hilfe von Eigeneinrichtungen die haus- und kinderärztliche Grundversorgung in von Versorgungsengpässen betroffenen Regionen sicherstellen; ist aber aufgrund von gesetzlichen Regelungen noch nicht befähigt, selbst Zulassungen zu halten. Solange die Bedarfsplanung gilt und Hamburg als statistisch überversorgt gilt, wäre die Befähigung zum Halten einer Zulassung eine wesentliche Voraussetzung zur Eröffnung von Eigeneinrichtungen, um den in einer KV-eigenen Praxis angestellten Ärztinnen und Ärzten zumindest das Angebot unterbreiten zu können, Sitz und Praxis einmal selbst zu übernehmen. Die KV Hamburg arbeitet derzeit mit allen Beteiligten an Lösungsansätzen – etwa einer partiellen Aufhebung der Bedarfsplanung, um regional die Versorgung sicherzustellen und Ärztinnen und Ärzten die Perspektive einer Niederlassung zu bieten. Zusätzlich sind Anreizsysteme denkbar, mit deren Hilfe – etwa durch eine finanzielle Förderung – die Versorgung in bestimmten Stadtteilen gestärkt werden könnte.

Das Foto zeigt eine Eigeneinrichtung der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg.
Eigeneinrichtungen der KV Hamburg könnten in unterversorgten Stadtteilen die haus- und kinderärztliche Versorgung sicherstellen, meint ihr Vorstandsvorsitzender John Afful. Foto: IMAGO / Hanno Bode



4. Welche Bedeutung hat für Sie die ärztliche Selbstverwaltung?

Die ärztliche Selbstverwaltung ist eine Errungenschaft, um die uns andere Länder beneiden. Sie verbindet Freiberuflichkeit, Selbstständigkeit und statuarisch verfasste Gemeinwesenbezogenheit in bestmöglicher Weise – und ist damit das Rückgrat unseres solidarischen und gemeinwohlorientierten Gesundheitssystems.



5. Was wünschen Sie sich von der Politik?

Verlässliche Entscheidungen und ein klares Bekenntnis zur vertragsärztlichen und vertragspsychotherapeutischen Selbstverwaltung.



Das könnte Sie auch interessieren